Tom Franklin

Wilderer


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wann man sich entspannen konnte, bis es Zeit war, anzulegen und zu zielen. Meine Gliedmaßen begannen zu kribbeln, der Blutfluss in meinen Adern verlangsamte sich wie ein zufrierender Bach. Ich blinzelte so lange nicht, dass der Wald verschwamm und ich mir vorkam wie ein Teil davon: Die Bäume und Blätter nahmen etwas durchdringend Summendes an und büßten ihre scharfen Konturen ein, das Summen schwoll an, als flöge in meinem Kopf eine Hornisse herum, und einen Augenblick lang schwebte ich dort als Mittelpunkt von etwas, sah mit meinen Ohren, hörte mit meinen Augen, die Welt um mich he­rum ein greifbarer Schimmer von scheckigem Geräusch. Dann blinzelte ich.

      Und von der anderen Seite des Feldes aus ertönte Jeffs Schuss.

      Von da an bestand ich darauf, auf Jeffs Glück bringendem Hochsitz zu sitzen. Ein Jahr später, zu Beginn der Jagdsaison 1981, war ich ebenfalls dort und wartete, die Flinte im Schoß. Angespannt. Der Abend dämmerte und ich war abermals dabei, die Hoffnung zu verlieren. Ich hatte gejagt wie ein Fanatiker – ein-, zweimal am Tag. Ich hatte aufgehört, Bücher mitzunehmen. Ich hatte Wild gesehen, einmal sogar eine Hirschkuh verfehlt, und das legendäre Jagdfieber schüttelte mich in heftigen Schü­ben, sodass mir der Gewehrlauf zitterte und die Zähne klapperten.

      Jetzt, auf dem Glück bringenden Hochsitz, sah ich das Stück Wild nicht, als es aufs Feld trat. Das tut man selten. Sie erscheinen einfach. Und wenn es, so wie dieses, ein Bock ist, bemerkt man als Erstes das Geweih, die schlankesten, spitzesten Stangen der Welt, kein Knochen, sondern vertrocknete und steinhart gewordene Blutgefäße. Auf dem Hochsitz hob ich langsam die bebende Flinte und entsicherte, der Bock keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo ich zitternd saß.

      Während mir das Blut in den Ohren rauschte, zielte ich und schoss, ohne den Rückstoß zu spüren.

      Immer noch kauend, hob der Bock den Kopf. Sein Geweih schien sich zu entwirren, während er sich um­blickte, sich fragte, woher dieser Knall gekommen war. Irgendwann fiel mir ein, dass ich einen zweiten Lauf hatte, und ich betätigte erneut den Abzug, ehe mir schließ­lich klar wurde, dass ich den zweiten Abzug betätigen musste. Als ich schoss, knickte das Tier ein, fing sich wieder und verschwand dann, abgelöst von dem Lärm, mit dem etwas durch das tote Laub hinter mir fetzte, ein schmerzhaftes, in die Senke hinunterkrachendes Geräusch.

      Von der anderen Seite des Feldes aus Jeffs Stimme: »Was geschossen?«

      Mit zitternden Händen stieg ich die Leiter hinunter. Unten angelangt, mühte ich mich damit ab, die Flinte aufzuklappen, und aus meiner Tasche fielen Patronen auf den Boden. Ich lud nach und ließ mich fast weinend auf den Grund der Senke hinuntergleiten.

      Der Bock war – Gott sei Dank – dort. Noch am Leben, aber zu Boden gebracht. Seine Flanke hob und senkte sich, ein Hinterlauf zitterte. Während ich mich ihm nä­herte, zählte ich seine Geweihenden – sechs, sieben, acht – ein Achtender! Was ich jetzt eigentlich hätte tun sollen – was mein Dad und meine Onkel mir eingetrichtert hatten —, war, mich dem Bock vorsichtig zu nähern, mein Messer zu ziehen, ihm die Kehle durchzuschneiden und zuzusehen, wie er verblutete. Doch in meiner Aufregung vergaß ich das. Stattdessen trat ich bis auf einen Meter an die erlahmende Flanke des Tiers heran und entsicherte die Flinte. Ich hielt sie im Hüftanschlag, legte einen Finger um jeden der beiden Abzüge und betätigte sie beide gleichzeitig.

      An jenem Abend bewunderte meine gesamte Familie den Bock, der mit sich trübenden schwarzen Augen auf der Ladefläche von Dads Pick-up lag. Es ist Tradition, einem Jungen Blut ins Gesicht zu schmieren, wenn er seinen ersten Bock geschossen hat, aber Dad hatte eine Lektion zu erteilen. Ich hatte den Rumpf des Bocks so übel zerschossen, dass das Fleisch großenteils nicht mehr zu verwenden war. Das Loch, das ich ihm in die Flanke geschossen hatte, war so groß, dass ich meinen Kopf hätte hineinstecken können, und Dad trat hinter mich und tat genau das. Als er mich am Kragen wieder herauszog, hätte ich mich fast übergeben, aber ich schaffte es, mich zusammenzureißen wie ein Mann. Das war der Moment, in dem mich alle umringten, meine Onkel und Jeff mir auf den Rücken klopften und Mom und meine Tanten mich umarmten, bemüht, kein Blut auf ihre Blusen zu bekommen.

      Wenn ich diese Geschichte erzähle, beende ich sie mit dem Satz, dass das Gefühl, das ich an jenem Abend hatte, nur einmal übertroffen wurde, nämlich als Beth Ann an einem warmen Wein-und-Käse-Nachmittag in Paris meinen Heiratsantrag annahm. Während ich das Stück unter Dads Anleitung aufbrach, aus der Decke schlug und die kleinen weißen Fettpolster wegschnitt, näherte sich uns mein achtjähriger Cousin. Als der Junge die blutige, leere Leibeshöhle des Bocks sah, wankte er würgend davon. Dad sah mich an und verdrehte die Augen. Dann begannen wir das rote Fleisch zu zerwirken, mein Gesicht und mein Hals immer noch blutverschmiert, meine Haare von Blut verkrustet.

      Gegen Ende derselben Jagdsaison saß ich auf einem bewaldeten Hügel auf einem Stück Land, für das mein Vater, als er es verkaufte, klugerweise die Schürf- und Jagdrechte behalten hatte. Es war nur zwei Monate, nachdem ich meinen Achtender geschossen hatte, doch nun war alles anders, denn Jeff hatte in der Schule mit dem Bock angegeben. Wenn ich die Geschichte erzählte, stellte ich mich jedes Mal als Dummkopf hin, weil ich dem Tier aus nächster Nähe beide Läufe verpasst hatte. Den Leuten schien das zu gefallen. Ich war dabei, die Macht der Selbstironie zu entdecken, und es machte mir nichts aus, dass über mich gelacht wurde, solange nur alle wussten, dass ich den Hirsch geschossen hatte. Und so war es auch. Trainer Horn hatte mich in sein Büro hinter der Sporthalle geführt und mir die Geweihe an der Wand gezeigt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich kein Schlappschwanz mehr. Nein. Als ich an jenem Abend auf dem Hang saß, war ich ein Mann, der zum ersten Mal Blut geschmeckt hatte und nach mehr verlangte.

      Es war ein milder Januartag, das Laub spröde und vom Wind zu einem fast ständigen Rascheln bewegt. Plötzlich war auf dem Grund der Schlucht ein noch größerer Achtender erschienen und stahl sich zwischen den Lebenseichen hindurch. Zuerst sah ich sein Geweih, während er am Boden entlangschnoberte und Eicheln fraß. Dann seinen Widerrist. Seinen Stummelschwanz. Dank der Farbe des toten Laubs hob er sich so wenig vom Hang ab, dass ich ihn nur sah, wenn er sich bewegte. Mein Herz begann zu hämmern, und als ob der Bock es hörte, hob er den Kopf und sah mich direkt an. Er hielt die Nase in die Luft und schnaubte, seine Nüstern schimmerten. Einen Moment lang schien er zu verschwinden, gar nicht dagewesen zu sein, doch ehe ich in Panik geraten konnte, sah ich ihn wieder, als er sich einen Schritt von mir entfernte.

      Irgendwie machte ich alles richtig – zielte, als er den Kopf senkte, drückte den Abzug, anstatt daran zu reißen – und hätte trotzdem fast vorbeigeschossen. Die Schrotgarbe traf ihn an Hals, Gesicht und Geweih, von dem sie kleine Stückchen absplitterte, tüpfelte seine Backen mit blutigen Perlen, kostete ihn ein Auge und verletzte ihn – wie wir später sahen – an der Wirbelsäule, sodass die Hinterläufe gelähmt waren und er nur noch die Vorderläufe benutzen konnte. Ich stand auf und sah zu, wie er sich durchs Laub schleppte, zu entkommen versuchte, wühlend den Hang der Senke hinunterstolperte.

      Von der nächsten Senke aus rief Jeff: »Was geschossen?«

      Ich stürzte halb auf den Grund der Schlucht. Der Bock lag still, die großen, ledrigen Flanken hoben und senkten sich nur ganz leicht, auf seiner schwarzen Nase schimmerte Blut. Während ich, die Flinte im Anschlag, um ihn herum ging, beobachtete er mich, sein erhobener Kopf drehte sich, um mich im Blick zu behalten. Ein Auge war rot und blutete, doch das andere war nach wie vor hell und klar. Auf der anderen Seite des Hügels hörte ich Jeff durchs Laub krachen. Ich wusste, er hatte meinen Schuss – meinen einen Schuss – gehört, und ich wollte nicht, dass er noch einen hörte.

      Warum schnitt ich dem Bock nicht die Kehle durch? Das war keine Schande und außerdem die sicherste Methode, sich vor seinem tödlichen Geweih zu schützen. Doch stattdessen tat ich etwas, was mich bis auf den heutigen Tag entsetzt. Ich legte die Flinte auf den Boden und zog mein Sharpfinger. Ich näherte mich dem Bock und sah zu, wie er mir mit seinem gesunden Auge folgte. Vorsichtig, so wie man mit dem Fuß eine Schlange festnagelt, streckte ich das Bein aus, stellte dem Bock den Stiefel in den Nacken und drückte ihm den Kopf nach unten. Ich kniete mich rittlings auf seinen Rücken. Jetzt hörte ich sein abgerissenes Atmen, spürte seine Wärme an meinen Oberschenkeln. Mit der rechten Hand packte ich eine dicke Stange seines Geweihs und drehte sein gesundes Auge zur Seite, damit er nichts sah. Er leistete keinen Widerstand. Ich hob das Messer