»Am besten werde ich meine Wohnung eine Zeit lang nicht mehr verlassen, damit ich nicht ständig auf diese Frau treffe«, sagte Franziska, nachdem sie und Lorenz die Fußgängerzone verlassen hatten und in die Straße mit den Kastanienbäumen einbogen, in der sie wohnte.
»Das wäre falsch, Franziska, das würde Gusti Meier nur in ihrem Tun bestärken«, widersprach Lorenz ihrer Entscheidung.
»Aber sie beeinflusst die Leute und bringt vielleicht sogar die Kinder gegen mich auf.«
»Nicht alle fallen auf dieses Gerede herein.«
»Gerade eben hat es aber recht gut geklappt.«
»Das war kein schönes Erlebnis, das ist mir klar. Was meinst du, wollen wir noch irgendwo hinfahren? Ich möchte dich jetzt ungern allein lassen«, sagte Lorenz.
»Ich will auch gar nicht allein sein«, gab sie zu. Sie wollte nicht den Rest des Tages damit verbringen, sich selbst zu bedauern. »Wie wäre es, wenn wir bei mir blieben und uns ein paar Filme ansehen? Ich habe auch noch Pizza im Tiefkühlfach.«
»Das klingt nach einer guten Ablenkung für dich und würde auch mir gefallen«, sagte Lorenz.
»Also dann, gehen wir zu mir«, entgegnete Franziska.
Der Abend verlief genau so, wie sie sich ihn gewünscht hatte. Sie saßen auf dem kuscheligen roten Sofa in ihrem Wohnzimmer, sahen sich zuerst die Originalversion von Casablanca an, danach zwei Filme von Alfred Hitchcock. Sie schoben Pizza in den Backofen, aßen sie im Wohnzimmer vor dem Fernseher und gönnten sich später noch ein Eis aus dem Tiefkühlfach.
Später gingen sie auf den Balkon hinaus, tranken ein Glas Wein und beobachteten die Sternschnuppen, die ungewöhnlich zahlreich über den nächtlichen Himmel jagten.
Als Lorenz sich schließlich verabschiedete, dachte Franziska schon, er würde einfach so gehen, aber sie hatte sich geirrt. Bevor sie die Wohnungstür für ihn öffnete, betrachtete er sie mit einem langen zärtlichen Blick, nahm sie in seine Arme und küsste sie. In diesem Moment wusste sie, dass er sich nicht aus Mitleid um sie kümmerte, sondern weil er sich in sie verliebt hatte.
*
Danny war am Freitagnachmittag nach der Sprechstunde selbst in die Klinik in der Stadt gefahren, um sich eine Kopie der Akte von Franziska Kern geben zu lassen. Er wollte vermeiden, dass sie die Herausgabe verzögerten, weil sie eine Klage der Patientin befürchteten.
Nachdem er es geschafft hatte, in das Büro der Verwaltung vorgelassen zu werden, das Zugriff auf die Patientenakten hatte, wurde er von einer älteren Frau mit strenger Kurzhaarfrisur und Hornbrille, die hinter ihrem Schreibtisch thronte, auch gleich gefragt, ob es um ein Gutachten ging.
»Nein, um eine Weiterbehandlung«, hatte er wahrheitsgemäß geantwortet. Franziska Kern hatte ihn nicht um ein Gutachten gebeten, und sie hatte bisher auch noch keine Klage gegen die Klinik eingereicht, mit der sie aber offensichtlich rechneten.
Die Dame in der Verwaltung wollte ihn auch gern unverrichteter Dinge wieder fortschicken, nachdem er ihr die unterschriebene Vollmacht gegeben hatte. Sie erzählte ihm etwas von Überlastung und administrativen Problemen. Aber er ließ nichts davon gelten und bestand darauf, dass sie ihm eine Kopie dieser Akte aushändigte.
»Ich kann die Patientin nicht weiterbehandeln, wenn ich weder die Ausgangsdiagnose kenne noch das Ergebnis der Operation«, machte er ihr klar, dass er hartnäckig bleiben würde.
Schließlich hatte sie ihm erklärt, dass sie die Herausgabe nicht allein entscheiden könnte, und er hatte sie aufgefordert, jemanden zu suchen, der das konnte. Irgendwann gab sie auf, telefonierte mit der Geschäftsleitung und druckte ihm dann Franziskas Akte aus. Ein Vorgang, der nicht mehr als zwei Minuten in Anspruch nahm. Er bedankte sich und verließ das Krankenhaus, das in Fachkreisen für seine große Anzahl orthopädischer Operationen, besonders an Knien und Hüften, bekannt war. Ob sie immer notwendig waren, konnte er ohne Hintergrundwissen natürlich nicht beurteilen.
Am Sonntagvormittag hatte er sich die Zeit genommen, Franziskas Akte zu lesen, und festgestellt, dass sie sich während des Eingriffs nicht nur einen Keim eingefangen hatte, auch das Innenband des Knies wurde versehentlich bei der Operation verletzt. Auch wenn es von selbst wieder heilen würde, bedeutete dieses Versehen erst einmal Schmerzen für die Patientin.
Nachdem er die Akte gelesen hatte, beschloss er, auf einen Kaffee zu seinen Eltern zu fahren, um mit ihnen über diesen Befund zu sprechen. Sie stimmten ihm zu, dass seiner Patientin viel erspart geblieben wäre, hätte ihr Orthopäde sich auf eine nicht operative Untersuchungsmethode beschränkt. Inzwischen sollte sich auch unter Orthopäden herumgesprochen haben, dass eine Arthroskopie zur Diagnoseabklärung das letzte Mittel der Wahl ist.
In Franziskas Fall hätte eine Ultraschalluntersuchung oder auch eine Röntgenaufnahme ausgereicht. Genau wie er vermuteten auch seine Eltern, dass Franziskas Knie nach dem Sturz beim Volleyballspiel nur geprellt war und die Operation viel zu schnell angesetzt wurde. Er würde seine Patientin nicht im Unklaren darüber lassen, wie er Ihren Fall einschätzte. Was sie mit dieser Wahrheit anfing, das blieb ihr überlassen.
Als er am Montag in die Praxis kam, bat er Lydia, die noch ein wenig verschlafen hinter dem Empfangstresen stand, Franziska für den Nachmittag in die Praxis zu bestellen.
»Ich kümmere mich darum«, sagte sie und unterdrückte mühsam ein Gähnen.
»Aufregendes Wochenende gehabt?«, fragte er lächelnd.
»Ein Kellerbrand am Samstag und zwei Wohnungsbrände gestern Abend. Der letzte war das Ergebnis eines romantischen Abendessens bei Kerzenschein. Glücklicherweise gab es überall nur leicht Verletzte.«
»Die meisten Leute können mit offenem Feuer einfach nicht mehr umgehen«, mischte sich Sophia ein, die aus dem schon wieder gut besetzten Wartezimmer kam, nachdem sie dort die Fenster geschlossen hatte, die noch zum Lüften geöffnet waren.
»Nicht jeder ist auf einem Schloss aufgewachsen, in dem Kerzen zum Abendessen Standard sind. So wie bei dir zu Hause, meine allerliebste Baroness«, entgegnete Lydia und deutete einen Handkuss in Richtung Sophia an.
»Lass das, bitte.« Sophia drehte sich um, überprüfte im Laufen den Sitz des Pferdeschwanzes, zu dem sie ihr blondes Haar gebunden hatte, und verschwand in der Praxisküche.
»Wenn die Leute wüssten, wie es in adligen Familien manchmal wirklich zugeht, zum Beispiel bei den von Arnberg, dann würden sie den Adel wohl weniger verehren«, stellte Lydia nachdenklich fest.
»Hat sie denn gar keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie?«, fragte Danny leise nach.
»Würden Sie denn noch Wert auf eine Familie legen, die Sie nach dem Tod Ihres Vaters mitsamt Ihrer Mutter aus dem Haus wirft und Ihnen sämtliche Erbansprüche streitig macht?«
»Diese Familie wäre für mich gestorben«, gab Danny offen zu.
»Genau, für mich auch. Glücklicherweise sind wir nicht von Adel. Wann können wir mit der Sprechstunde anfangen?«
»In fünf Minuten. Und denken Sie an Frau Kern«, erinnerte er Lydia an seine Bitte, bevor er in sein Sprechzimmer ging. So wie Lydia, die in einer intakten Familie lebte, war auch er glücklich mit seiner Familie. Natürlich gab es hin und wieder Meinungsverschiedenheiten, aber letztendlich verstand er sich mit seinen Eltern und seinen Geschwistern bestens, und es würde ihm wehtun, wenn er den Kontakt auch nur zu einem von ihnen verlieren würde.
Nachdem Lydia ein paar Mal bei Franziska angerufen hatte, sie sich aber nicht meldete, hinterließ sie ihr die Nachricht auf dem Anrufbeantworter, dass sie noch heute in die Praxis kommen konnte, um mit Doktor Norden über ihre Krankenakte zu sprechen.
*
Franziska hatte die ganze Nacht kaum geschlafen. Nachdem Lorenz am Abend zuvor gegangen war, hatte sie sich hingelegt, und plötzlich flammten die Schmerzen in ihrem Knie wieder auf. Gegen Morgen war sie dann irgendwann eingeschlafen und wachte erst wieder auf, als die Glocken des Kirchturmes in der Nähe zwei Uhr schlugen. Die Schmerzen waren