der Raumerschließung, der nicht machtvoll, sondern vom Gestus des Suchens und Erkundens sowie von kleinsten expressiven Übergängen geprägt ist. Zudem ist er eingebunden in ein Werkkonzept, das auch Resonanzen von Beethovens und Schumanns Musik entfaltet.35
Betrachtet man die längst als Kurtágs Markenzeichen geltenden enorm vielfältigen Referenzen zum Schaffen anderer Komponisten, sollte man die oft mehr als graduellen Unterschiede der Bezugnahmen nicht übersehen. Manche Pointierungen tauchen eher kurz auf, etwa durch punktuelle Allusionen. Assoziativ oder mit flüchtigen Anspielungen oder Pseudo-Zitaten verfährt Kurtág besonders dort, wo sich beim Komponieren gleichsam zufällig Erinnerungen an Musik anderer ergeben. Dass er zuweilen, anspielend auf Strategien der bildenden Künste, von der Idee des »objet trouvé« spricht, signalisiert den Verzicht darauf, allen intertextuellen Bezügen eine Verarbeitung oder umfassende Reflexion zuteilwerden zu lassen (von einem Werk, bei dem dies anders ist, wird gleich noch die Rede sein).
Wenn Kurtágs Musik bestimmten Bezügen gleichsam nachhorcht, die manchmal ähnlich überraschend ins Spiel geraten wie die berühmten Blechbläser-Passagen aus Stockhausens Gruppen, scheint mittels Resonanzen unterschiedlichster Deutlichkeit und Prägnanz die Eingebundenheit seines musikalischen Bewusstseins in mehrere Jahrhunderte Kunstmusik auf. Insofern enthalten die vielfältigen Referenzen einen Habitus der Selbstvergewisserung und sind als emphatische Konfigurierung eines Horizonts lesbar. Solche Emphase ist aber zugleich als bewusster Kontrast zu jenen politisch düsteren Zeiten zu deuten, die Kurtág vor allem vor 1989 erlebte und die zumindest zeitweilig mit einer staatlich verordneten Abschottung einhergingen. An diesem Punkt zeichnet sich eine Parallele zum Komponieren von Sofia Gubaidulina ab, die in ihrem Violinkonzert Offertorium (1980/86) gleichermaßen auf Johann Sebastian Bach und auf Anton Webern rekurriert (ausgehend von Weberns Bearbeitung des Ricercars aus dem Musikalischen Opfer). Gerade Gubaidulina hat damit ein denkbar nachdrückliches Bekenntnis zu einer Tradition formuliert, die durch die politischen Umstände in ihrem Land zeitweilig ignoriert wurde. In beiden Fällen sollte man jedoch – ähnlich wie bei den bekenntnishaften Rekursen auf Künstler im Schaffen Nonos – vorsichtig sein, das Biografische überzubetonen, um nicht Gefahr zu laufen, das Überzeitliche zu marginalisieren. Mit Schillers Idee einer »ästhetischen Freiheit« hat dieses Überzeitliche, das in seiner emphatischen Tönung auch weit mehr ist als die oft viel zu schlicht konstatierte Verwurzelung in der Tradition, gewiss viel zu tun.
III Schumann-Rezeption
Als György Kurtág im Jahre 2004, als längst in der Szene der Gegenwartsmusik anerkannter Komponist, Dozent der Darmstädter Ferienkurse war, überraschte er mit einer Haltung, die manche Kursteilnehmer damals als persönliche Marotte oder gar Verweigerungshaltung deuteten: Er verzichtete auf Lectures zu seiner Ästhetik oder zum Komponieren insgesamt, wie man sie an diesem Ort eigentlich gewohnt war. Stattdessen konzentrierte er sich auf die gründliche Arbeit mit den Ausführenden seiner Musik. Für ihn war diese Arbeit, gewiss mehr als für die meisten anderen namhaften Komponistenpersönlichkeiten seiner Generation, jahrzehntelang ein wesentlicher Teil seiner Identität als Künstler. Und mit großer Beharrlichkeit umfasste diese Arbeit immer wieder auch die Reflexion der Potenziale klassisch-romantischer oder auf diese reagierender Kunstmusik.36 Dies reicht bis zu Situationen eines »objet trouvé«, die zumindest dann, wenn sie adäquat realisiert werden, etwas Überraschendes haben. »Feierlich: Hommage à Bruckner« heißt es an einer Stelle (T. 21/22) im ersten Teil des Orchesterwerkes Stele (1993/94, rev. 2006). Das verhilft dem Stück keineswegs zu einer stabilen Feierlichkeit, wohl aber zu einer überraschenden Pointierung, einer kurz aufblitzenden Vision, die in fast paradoxer Weise subtil und doch im Kontrast zu der bis dahin dominierenden, von mikrotonalen Schwankungen geprägten Fragilität steht.
Besonders eines seiner kammermusikalischen Stücke, die auf Robert Schumann fokussierte Hommage à R. Sch. (1975–90), steht dafür, dass die Auseinandersetzung mit unzähligen Werken früherer Zeiten auch vielfältige Spuren im eigenen Schaffen hinterlässt – und das reflektierende, mit ungewöhnlichen Pointierungen aufwartende Spiel mit Perspektiven früherer Musik darin eine wichtige Facette sein kann. Der erste der insgesamt sechs Sätze dieses Werkes, das die an der Aura romantischer Kammermusik orientierte Besetzung Klarinette, Viola und Klavier verlangt (und unmittelbar von der Beschäftigung mit Schumanns gleich besetzten Märchenerzählungen inspiriert ist), trägt den Titel »Merkwürdige Pirouetten des Kapellmeisters Johannes Kreisler«. Auch dies ist auf Schumann bezogen, in diesem Fall auf dessen berühmte Kreisleriana, auf deren Horizont Kurtágs Stück in vielfältiger Weise anspielt. Außer Johannes Kreisler, dem poetischen Mittelpunkt der Kreisleriana, finden sich dabei auch andere konkrete Bezugspunkte: nämlich Florestan, Eusebius und Meister Raro, also jene drei schillernden imaginären Davidsbündler-Gestalten, in deren Namen Schumann seine Kunstanschauung formulierte und auch komponierte.37 Die Davidsbündler sprechen, wie Schumann selbst betont hat, nicht selten mit humoristischem oder ironischem Zungenschlag. Und die Fähigkeit, solche sanft irritierenden Färbungen in sich aufzunehmen, ist auch den oft bruchstückhaften und von rätselhafter Einfachheit bestimmten Setzungen von Kurtágs Hommage-Stück eigen. Sie halten sich weithin abseits thematisch-motivischer Entwicklungen. Auf engstem Raum bringen sie sowohl fiebrig aufbrausende als auch eingedunkelt wirkende und fast resignativ fahle Tönungen. Doch keine dieser Grundhaltungen erhält Raum zur Stabilisierung oder üppigen Entfaltung, immer wieder gibt es Brechungen und Infragestellungen. Nachdem die ersten fünf Sätze von der für Kurtág charakteristischen miniaturhaften Knappheit und Verdichtung sind (sie dauern jeweils weniger als eine Minute), maßt sich einzig der letzte Satz eine Länge von sechs Minuten an. Es ist ein weitgehend ruhiges, verdämmerndes Adagio, an dessen Ende der Klarinettist für einen Moment eine große Trommel zu verwenden hat. Dieser absichtsvoll inhomogen wirkende, seltsam surreale Schluss erscheint wie eine Antwort auf die zuvor flüchtig-andeutungsweise gesetzten virtuosen und extrovertierten Momente, die ihrerseits wie Anspielungen auf Schumanns Reflexionen von Virtuosität wirken. Wenn nun die Figur des Meister Raro eingeführt wird und ein Bezug zu Machaut ins Spiel gerät, darf dies als Hinweis auf Schumanns berühmte Aufforderung gedeutet werden, die gerade Meister Raro in den Mund gelegt wird: »Gebt den Jünglingen die Alten als Studium, aber verlangt nicht von ihnen, dass sie Einfachheit und Schmucklosigkeit bis zur Affektion treiben«, heißt es bei Schumann just im Zusammenhang mit Guillaume de Machaut. Kurtágs Hommage reagiert darauf durch eine Passacaglia, die gleichermaßen auf Schumann wie auf Strategien der viel älteren Musik verweist. Wenn er sich auf die Spuren Schumanns und anderer Komponisten begibt, hat er kein monumentales Denkmal im Sinn, sondern eine differenzierte Auslotung poetischer Ideen, deren Kern das intern Widersprüchliche ist. Wie schon im Abschnitt »Hommage à Schumann« der Kafka-Fragmente (Nr. 18 »Träumend hing die Blume«) ist die Attitüde der Zwiesprache mit einer ihm nahestehenden, von extrem körperlichen Gesten geprägten Klangsprache des 19. Jahrhunderts unverkennbar. Doch typisch für Kurtágs Schumann-Reflexe sind nicht die vereinzelten mehr oder minder deutlichen Anspielungen auf konkrete Stellen, sondern ist die expressive Intensität, mit der gerade an die Ästhetik Schumanns und ihre Eigenwilligkeiten angeknüpft wird. Namentlich Schumanns Idee einer mit Merkwürdigkeiten vollgesogenen poetischen Musik abseits der strengen klassischen Formprägungen wird dabei zum Referenzpunkt. Schumanns Musik ist für Kurtág darin ein Vorbild, dass sie zu Lösungen kommt, die die genannten Impulse Beethovens keineswegs anzweifeln oder gar suspendieren, aber mit dem bereichert, was bei Schumann (beflügelt von frühromantischen Ideen) »neue poetische Zeit« hieß. Auch Kurtág, der zwar gern auf dem Nicht-Systematischen und Intuitiven seines Komponierens beharrt, aber doch gleichzeitig höchst detailreich und genau arbeitet, entfaltet eine Musik voller poetischer Tönungen und Gesten, die – wie diejenige Schumanns – dazu angetan ist, tiefgründig existenzielle Momente anzudeuten, aber diese mit gegenläufig pointierten Akzenten zu verschränken. Selbst wenn es in seinem Schaffen eine Fülle von auskomponierten Verbindungen zu früheren Komponisten gibt, erscheint kaum ein Stück so dezidiert programmatisch wie diese Schumann-Hommage. Daraus spricht das Bewusstsein, dass die Relevanz von Schumanns Ästhetik – und gerade von Schumanns Gegenentwürfen zu streng diskursiven Gestaltungen sowie seine von