Ludger Tebartz van Elst

Jenseits der Freiheit


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und beschrieben.

      Dieses Buch thematisiert nun Fragen diesseits und jenseits dieser Grenze, diesseits und jenseits der Freiheit. Denn wer sein eigenes Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Wollen und Handeln und das der Gruppen in einer Gesellschaft beobachtet (den Diskurs), wird schnell feststellen: es gibt erkennbare und benennbare Muster und Stereotypien in der kognitiven Welt. So gestaltlos die Welt des Mentalen auch sein mag, sie ist nicht ohne Struktur, sie funktioniert nicht ohne Gesetzmäßigkeiten.

      Diese Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der psychobiologischen Räume, in denen Willensfreiheit stattfindet, sollen in diesem Buch bedacht werden.

      Es zeigt sich: Willensfreiheit und die Freiheit des Verhaltens sind nichts Absolutes. Sie finden nicht außerhalb der Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaft statt, sondern sind als körperliches, psychobiologisches Phänomen in diese eingebettet. Und freies Verhalten bezieht sich notwendig auf unfreie, weil nicht unmittelbar-veränderbare Gegebenheiten: den eigenen Körper, die eigene Persönlichkeit, Krankheiten und Behinderungen (das Diesseits der Grenze). Aber auch die gesellschaftliche Umwelt, die Sprache und Kultur, mit denen alles Bedeutungsvolle im eigenen Leben überhaupt erst begriffen wird, treten dem wollenden Menschen als unfreie Gegebenheit gegenüber (das Jenseits der Freiheit).

      In dieser Gemengelage von überwiegend unfreien Rahmenbedingungen bewegt sich das Wollen und Verhalten eines Menschen. Beide haben Gründe, zumindest teilweise erkennbare und benennbare Bewegkräfte, die Ursachen von Bewegungen und Verhalten sind. Als übergeordnete endogene, der Biologie des Lebens an sich erwachsene Bewegkräfte werden aus objektiver Perspektive die Triebe identifiziert. Ihnen entsprechen aus subjektiver Perspektive des Selbsterlebens die Bedürfnisse. Dem objektiven Sexualtrieb entspricht das subjektive Bedürfnis nach Sexualität. Der fundamentale Lebenstrieb führt bei Lebewesen, die die eigene Vergänglichkeit begreifen, aus objektiver Sichtweise zum transzendenten Trieb. Aus subjektiver Perspektive entsprechen dem die transzendenten Bedürfnisse oder – in einer anderen Sprechtradition – das Bedürfnis nach Sinn.

      Auf transzendente Beweggründe wird im postmodernen Denken nur wenig reflektiert. Wahrscheinlich liegt das u. a. daran, dass es im allgemeinen Diskurs unserer Zeit eng mit religiösem Denken verknüpft vorgestellt wird, welches vielen als antiquiert gilt. Dabei stellen die religiösen transzendenten Systeme zwar die bekanntesten Beispiele transzendenter Kognition und Motivation dar – aber sicher nicht die einzigen.

      Schon im Buch Freiheit (TvE 2015) wurden das Musterhafte, Stereotype, Immer-Wieder-Kehrende und Vorhersagbare im Wahrnehmen, Denken, Erleben und Verhalten von Menschen als die Stigmata des Unfreien beschrieben. Solche Stigmata der Unfreiheit können nach meiner Analyse auch im transzendenten Erleben und Verhalten von Menschen erkannt werden. Sie scheinen mir im säkularen wie im sakralen Denken und Verhalten eng mit transzendenter Übertreibung, Extremismus und Fanatismus verknüpft zu sein.

      Freiheit als neurokognitiver Auftrag bedeutet für den Einzelnen wie für die Gesellschaft unter anderem auch die Aufgabe, solche potentiell sehr schädlichen Strukturen der Unfreiheit zu erkennen und an ihrer Überwindung zu arbeiten.

      Wenn ich mit diesem Buch dazu einen kleinen Beitrag leisten kann, würde mich das sehr freuen.

      Der Gedankengang dieses Buches baut systematisch auf den vorherigen Publikationen BioLogik (TvE 2003) und Freiheit (TvE 2015) auf und setzt das dort entwickelte Denken fort. Um unnötige Redundanzen zu vermeiden, wird im Text daher immer wieder verkürzt auf die Argumentation in diesen Werken verwiesen, ohne die entsprechenden Gedankengänge hier im Detail zu wiederholen.

      Abschließend möchte ich an dieser Stelle all den Menschen danken, mit deren Hilfe ich im diskursiven Austausch, in kontroverser und affirmativer Diskussion die hier vorgestellten Überlegungen entwickeln konnte: meiner Frau an erster Stelle, meiner Familie, Großfamilie, meinen Kolleginnen und Kollegen an der Klinik (besonders am Mittagstisch), der Universität und Forschung. Danken möchte ich vor allem aber auch meinen Patientinnen und Patienten. Ich erlebe es als Privileg und Geschenk, in meinem beruflichen Alltag an den vielfachen Besonderheiten, Eigenheiten, Faszinosa und Alltäglichkeiten ihrer Wahrnehmungen, ihres Denkens, ihrer Ängste und Sorgen, ihrer Wünsche und Aspirationen und ihres Wollens, Hoffens und Glaubens auf intime Art und Weise teilhaben zu dürfen. All diese Erfahrungen sind die eigentliche empirische Grundlage dieses Buches. Danken möchte ich schließlich dem Kohlhammer Verlag, Frau Brutler, Frau Reutter und vor allem Herrn Dr. Poensgen, der dieses Buch von Beginn an wohlwollend unterstützt und durch seine Überarbeitung und Anregungen sehr bereichert hat.

      Ludger Tebartz van Elst

      Freiburg im Breisgau, November 2020

      Einleitung

      Freiheit ist ein Phänomen der Grenze. Es gibt keine Freiheit im leblosen Raum, sondern nur an den äußersten Rändern der psychobiologisch erschlossenen Welt. Freiheit gebiert Transzendenz und braucht Struktur. Die konkrete Form der Struktur, die den leeren Raum erschließt und damit zur freien Welt macht, hat Bedeutung für die Ökologie dieser Welt. Wer die Gesetzmäßigkeiten und Wirkkräfte im Grenzraum diesseits und jenseits der Freiheit nicht kennt, ist ihrer Dynamik wehrlos ausgeliefert.

      Dies sind die Kerngedanken, die in diesem Buch systematisch entwickelt werden.

      Dazu wird zunächst der Frage nachgegangen, was das Leben bewegt. Warum verhalten Tiere und Menschen sich so, wie sie es de facto tun? Dies ist der klassische Forschungsgegenstand der vergleichenden Verhaltensforschung, der Ethologie. Und so können die in diesem Buch erarbeiteten Überlegungen auch als ethologische Reflexionen auf die Verhaltensmuster von Menschen verstanden werden. Zu diesen Fragen werden in Kapitel 1 Antworten aus der klassischen Philosophie, der biologischen Psychologie und der Motivationspsychologie gesammelt und analysiert (image Kap. 1). Die Kerngedanken der für das abendländische Denken so einflussreichen Freud’schen Triebtheorie werden ebenso dargestellt wie das ebenfalls sehr einflussreiche Modell der Maslow’schen Bedürfnispyramide. Schon an dieser Stelle taucht der auch in diesem Buch zentral entwickelte Gedanke der transzendenten Motivation auf. Im Weiteren werden die verschiedenen motivationalen Begrifflichkeiten, die in den verschiedenen Fachsprachen der Philosophie, Psychologie und Medizin nebeneinander bestehen, wie Trieb, Bedürfnis, Emotion, Motiv, Ziel etc., systematisch erfasst, analysiert und operationalisiert. Es wird darauf hingewiesen, dass der auch von Freud zentral verwendete Trieb-Begriff Verhalten aus der objektiven Beobachterperspektive beschreibt, während der Bedürfnis-Begriff in erster Linie auf das subjektive Erleben triebhaft organisierter Verhaltensweisen abhebt. Als grundsätzliches Axiom wird das Postulat eines Lebenstriebs festgehalten. Dieser liegt auch der allgemein anerkannten Darwin’schen Evolutionstheorie als fundamentale Bewegkraft zugrunde. Davon abgeleitet werden für die verschiedenen Organisationsformen des Lebens auf der Erde verschiedene Triebbereiche: die vegetativen Triebe, die vor allem pflanzliches Verhalten erklären, die animalischen Triebe, welche die weitaus komplexeren tierischen Verhaltensweisen verständlich machen, und die kognitiven Triebe, welche aus den wachsenden kognitiven Fähigkeiten der zunehmend intelligenten Tiere erwachsen. Als bisher komplexeste Variante dieser kognitiven Triebe, die aus der Erkenntnis des eigenen Todes unter der Bedingung des fortbestehenden fundamentalen Lebenstriebs zwangsläufig entstehen, werden die transzendenten Triebe identifiziert. Derart motivierte Verhaltensweisen zielen ab auf eine imaginierte Überwindung der eigenen Vergänglichkeit durch Einbettung des eigenen Verhaltens in größere, das eigene Leben übersteigende (transzendierende) Sinnzusammenhänge.

      Im zweiten Kapitel dieses Buches wird das Diesseits freien Verhaltens in den Blick genommen (image Kap. 2). Aufbauend auf den im Buch Freiheit (TvE 2015) erarbeiteten Überlegungen werden die Bedingtheiten potentiell freier Verhaltensweisen in den alltäglichen Situationen konkreten Lebens