tauchte auf, kam näher, blieb vor dem Krogen stehen und begann uns etwas vorzuspielen.
Es war eine schöne, schwermütige Melodie. In den umliegenden Häusern wurden Fenster und Türen geöffnet. Männer, Frauen und Kinder kamen in ihre Vorgärten und auf die Straße und hörten zu.
Der Musikant war ein alter Mann mit weißen Locken und einem dichten Bart. Er sah wie eine Sagengestalt aus, ein alter Wikinger oder ein Krieger aus einer Heldensage. Während er spielte, sah er mich plötzlich an, und mir war, als hätte ich diese klaren, eisblauen Augen schon einmal gesehen – irgendwo, vor langer Zeit.
Dann begann er zu singen. Seine Stimme war dunkel und volltönend, manchmal schon ein wenig zittrig. Ack Värmeland, du sköna, du härliga land, sang er. Ich verstand die Worte nicht, doch der Gesang und die Melodie klangen so schön und wehmütig, daß ich am liebsten geweint hätte.
Als der alte Mann verstummte, klatschten die Leute. Ein kleiner Junge sammelte Münzen ein und brachte sie dem Sänger. Der bedankte sich würdevoll. Als Professor Zetterlund aufstand und ihm einen Geldschein in die Hand drückte, verbeugte er sich.
„Was hat er gesungen?“ fragte ich Kristin, ohne den Blick von dem alten Mann zu wenden.
„Ein altes Lied“, sagte sie. „Ein Lied über Värmland, einen mittelschwedischen Regierungsbezirk. Es fängt so an: Ach Värmland, du schönes, du herrliches Land, du Krone unter Schwedens Ländern.“
Ich nickte nur. Noch immer wandte ich den Blick nicht von dem weißhaarigen Sänger. „Er sieht wie eine Sagengestalt aus“, sagte ich.
Jetzt begann er wieder zu spielen – eine Tanzmelodie diesmal. Ein paar Kinder faßten sich an den Händen und hopsten auf der Straße herum, ein junges Paar drehte sich im Kreis, alte Leute klatschten im Takt.
Das Gesicht des Professors strahlte, als er sich wieder zu uns setzte. „Einer der letzten Barden“, sagte er. „Sie sind fast schon ausgestorben.“ Dann war der Tanz vorüber, und er bat den Musikanten zu uns an den Tisch und bestellte Kaffee und Gebäck für ihn.
Der weißhaarige Alte war ein gebildeter Mann. Er sprach sehr gepflegtes Deutsch, das fast akzentfrei war, und erzählte, daß er früher als Lehrer auf Island gelebt hatte. Jetzt zog er durch ganz Skandinavien und machte Musik.
„Meine Frau und mein Sohn sind vor ein paar Jahren ums Leben gekommen“, sagte er. „Da hat es mich zu Hause nicht mehr gehalten.“
„Waren Sie auch in Deutschland?“ fragte ich. „Ich… mir ist so, als hätte ich Sie schon einmal gesehen.“
„In Deutschland war ich auch, ja“, erwiderte er. „Das ist lange her, sehr lange. Aber vielleicht kennen wir uns auch von anderswoher – es gibt nicht nur dieses eine Leben…“ Er verstummte, lächelte und sah mich nachdenklich an.
Ich verstand nicht recht, was er meinte. Professor Zetterlund sagte: „Dann glauben Sie also, daß es so etwas wie Wiedergeburt gibt?“
„O ja, sicher!“ sagte der alte Mann wie selbstverständlich. „Wir kommen nicht aus dem Nichts, wir sind nur Glieder in einer langen Kette. Eine Kette, die sich ewig erneuert, die das Wissen und das Schicksal von vielen Menschenaltern speichert. Das Vergangene ist in uns, wir haben nur nicht mehr den Blick, um es zu sehen – die meisten jedenfalls nicht, bis auf einige wenige.“
Er verstummte, und wieder sah er mich an. Ich spürte plötzlich, wie ich zu zittern begann. Es war, als hätte er etwas in mir erkannt, was ich selbst nicht wahrhaben wollte, eine Gabe vielleicht, eine Art Wesensverwandtschaft zwischen ihm und mir. Ich fühlte mich zugleich abgestoßen und angezogen, wollte gehen und doch bleiben.
Weder Professor Zetterlund noch Kristin schien etwas von meiner Verwirrung zu merken. Der Professor fand alles, was der alte Musikant sagte, „sehr interesssant“; und während die Leute sich zerstreuten, bekam der Fremde seinen Kaffee mit bullar, einer Art schwedischem Schmalzgebäck, nickte mir noch ein paarmal zu und lächelte schweigend.
Ich war froh, als er schließlich ging – froh und traurig zugleich. Wir sahen ihm nach, wie er zur Straßenecke ging. Dort nahm er seinen Rucksack auf und wanderte in Richtung Landstraße, und sein weißes Haar leuchtete in der Sonne.
13
Die folgenden Tage und Nächte verliefen ohne Zwischenfall. Nichts Ungewöhnliches geschah; alles war friedlich. Nachts hörte man kein Geräusch als das Rauschen und Raunen der Bäume ums Haus oder das Sausen des Windes im Kamin, der vom Meer kam. Manchmal schrie auch ein Käuzchen aus dem Wald.
Trotzdem schlief ich kaum, war ständig auf der Hut, immer in Angst vor etwas, das nicht kam. Keine Frau weinte, kein Kind wimmerte.
„Da siehst du, daß es nichts zu fürchten gibt!“ sagte Kristin, und ich hätte ihr so gern geglaubt. Sie sagte auch: „Du zuckst bei jedem Geräusch zusammen und siehst aus, als wärst du reif fürs Sanatorium, Frankie. Was du brauchst, ist Abwechslung.“
So fuhren wir am Samstag wirklich mit Magnus und Sten nach Uppsala. Es wurde ein schöner, unbeschwerter Tag. Wir kauften auf dem kleinen Bauernmarkt Obst ein, gingen in Ofvandahls Konditorei, in der es berühmtes Gebäck gibt, sahen uns den alten Stadtkern und das moderne Einkaufszentrum an und bummelten an den ehrwürdigen Universitätsgebäuden vorbei. Auch das rote Schloß hoch oben auf der Anhöhe besichtigten wir, sahen uns die berühmte Domkirche an, wie es sich gehört, und legten uns dann im alten Linnégarten ins Gras unter die Bäume.
Abends gingen wir noch in eine Studentenkneipe in der Nähe des Domes. Obwohl wir nur „Leichtbier“ tranken – richtiges Bier bekommt man als Jugendlicher in Schweden nicht ausgeschenkt –, waren wir ausgesprochen lustig, als wir uns auf den Weg zum Bahnhof machten, wo der Bus nach Lilletorp abfahren sollte.
Sten zog sein Hemd und seine Schuhe aus, und wir konnten ihn nur mit Mühe davon abhalten, noch im Fluß Fyris zu baden.
„Das ist ein sauberes Flüßlein!“ sagte er immer wieder. „Ich brauche eine Auffrischung!“
„Du kannst dir zu Hause duschen“, erwiderte Magnus geduldig. „Hier ist das Baden verboten, Sten. Wenn du so was machst, setzen sie dir ins Gefängnis.“
„Bei Wasser und Brot!“ sagte Kristin und kicherte so, daß sie sich auf den Randstein setzen mußte. „Außerdem versäumen wir den letzten Bus, wenn wir uns nicht beeilen. Willst du vielleicht nach Lilletorp zurückwandern?“
„Ich brauche nicht wandern, wenn ich aufs Gefängnis sitze“, sagte Sten sehr logisch und nickte mehrmals mit dem Kopf.
Wir zogen und schubsten ihn weiter und kamen gerade noch rechtzeitig zum Bahnhof, als der Busfahrer den Motor anließ. Eilig stiegen wir ein. Kaum hatten wir Uppsala hinter uns gelassen, da schlief Sten schon wie ein Stein – „wie sich’s für seinen Namen gehört“, sagte Kristin.
Ich saß neben Magnus am Fenster. Diesmal wurde ich vom Fahren nicht reisekrank, sondern nur schläfrig. Ich legte den Kopf an seine Schulter und schloß die Augen. Nach einer Weile spürte ich, wie er den Arm um mich legte und sacht meine Haare streichelte.
Mir war so friedlich zumute wie schon seit langem nicht mehr. Ich hätte ewig so fahren mögen, durch ganz Schweden, nach Norwegen hinauf und zurück nach Dänemark – überallhin, nur nicht nach Lilletorp. Schließlich schlief ich ein und träumte, daß jemand mich küßte. Es war ein schöner Traum.
Ich erwachte erst wieder, als der Bus hielt. Magnus schüttelte mich sanft und flüsterte: „Wir müssen hinaussteigen, Frankie!“
Kristin ging weniger behutsam vor. Sie versuchte Sten hochzuzerren und schrie ihm ins Ohr, er solle endlich aufwachen. Als er nicht sofort gehorchte, zwickte sie ihn fest in die Nase, worauf er erschrocken auffuhr, sich wild umsah und etwas auf schwedisch sagte.
„Nein“, erwiderte Kristin, „du bist nicht in der Schule, aber schlafen darfst du trotzdem nicht!“
Draußen