bleiben jene sogenannten Fide-Weltmeister, die zwischen 1993 und 2005 die WM-Turniere des Weltschachbundes gewonnen haben. Dass ihnen im Allgemeinen nicht die gleiche Wertschätzung zuteilgeworden ist wie den Weltmeistern der klassischen Linie von Steinitz bis Carlsen, liegt vor allem an den umstrittenen Modi und Umständen jener Fide-Weltmeisterschaften. Sie wurden meist im K.-o.-Format ausgetragen, bei verkürzter Bedenkzeit und einer äußerst geringen Anzahl von Partien, wodurch dem Faktor Glück eine viel größere Bedeutung zukam als sonst. Die wahren Spielstärkeverhältnisse verflüchtigten sich oft im Zufälligen, denn ein einziger Fehlgriff konnte schon das Aus bedeuten.
Von 2006 an besann sich die Fide wieder auf die gewachsenen sportlichen und kulturellen Werte früherer Schachweltmeisterschaften: Wladimir Kramnik, Viswanathan Anand und Magnus Carlsen – die Weltmeister 14, 15 und 16 – haben den Titel jeweils in längeren Wettkämpfen mit längeren Bedenkzeiten gewonnen, also unter ähnlichen Bedingungen wie einst Emanuel Lasker, Bobby Fischer oder Garri Kasparow.
Doch was machte diese Mozarts und Picassos des Schachs in ihren jeweils besten Zeiten eigentlich zum Primus inter Pares? Wieso haben es andere kongeniale Großmeister nie geschafft, Weltmeister zu werden? Auf der Suche nach Gründen galt es, neben den größten Erfolgen der jeweiligen Weltmeister auch den Wendepunkten ihres Lebens nachzuspüren und zu versuchen, sich ihren komplexen Persönlichkeiten zumindest ein wenig anzunähern. Sieben Weltmeistern bin ich im Wortsinn nahe gekommen, persönlich begegnet. Bei den anderen neun geschah dies in Recherchearbeit. Was also ist das Besondere an den Weltmeistern? Was hat sie geprägt? Wen prägen sie? Und haben alle womöglich irgendetwas gemein?
Ein gemeinsames Merkmal ist offensichtlich: das Geschlecht. Die 16 Weltmeister der vergangenen 130 Jahre waren beziehungsweise sind allesamt Männer. Nicht zuletzt wegen dieses Phänomens habe ich ein größeres Kapitel zum Thema „Frauen im Schach“ hinzugefügt. In diesem Exkurs werden außergewöhnliche Spielerinnen gewürdigt, und ich gehe Fragen nach, die bis heute unbeantwortet geblieben sind. Es ist ein Versuch, mithilfe neuerer Studien zu verstehen, weshalb es bislang keine Frau geschafft hat, als Weltmeisterin in einer Linie mit Steinitz, Lasker und deren Nachfolgern zu stehen. Wieso interessieren sich vergleichsweise wenig Frauen für Schach? Und hat dies alles eher biologische oder soziale Ursachen?
Ich danke Christopher Lutz von der Chessgate AG dafür, dass er mir die Rechte an den ersten 14 Weltmeisterporträts zurückgegeben hat. Teile dieser Texte waren bereits im Jahr 2004 in englischer Sprache erschienen (in World Chess Championship 2004 – Kramnik vs Leko). Mein besonderer Dank geht an Marc Schütte und Manfred Hermann für ihre damalige wertvolle Hilfe. Diese Porträts der ersten 14 Weltmeister habe ich für das vorliegende Buch überarbeitet, aktualisiert und teilweise ergänzt.
Schach, insbesondere Profischach hat sich in der vergangenen Dekade dynamisiert. Die Auswirkungen der digitalen Revolution auf das über 1.500 Jahre alte Spiel spiegeln sich nicht zuletzt in den hier komplett neu hinzugekommenen Porträts über Viswanathan Anand und Magnus Carlsen, die Weltmeister Nummer 15 und 16. Einerseits erhalten heutige Großmeister dank Computerprogrammen immer tiefere Einblicke in das Spiel, andererseits hat dies auch eine Reihe von Nachteilen mit sich gebracht. Wer die tägliche Informationsflut verarbeiten will, muss noch mehr trainieren als früher. Außerdem ist mit dem Einzug der digitalen Technik nicht nur das Wissen rasant angestiegen, sondern teilweise auch das Misstrauen untereinander.
Doch interessanterweise dominiert in Zeiten ständiger Beschleunigung jemand die Schachwelt, der eher für das Gegenteil steht: Weltmeister Magnus Carlsen. Der Norweger verkörpert eine Renaissance des Pragmatismus – und hat mit seinem „Magnus-Stil“ schon viele inspiriert.
Martin Breutigam, im Sommer 2016
Wilhelm Steinitz
Der große Schachreformator
Seine letzten Tage verbrachte Wilhelm Steinitz in der psychiatrischen Anstalt auf Ward’s Island in New York City. Verwirrt und halb gelähmt notierte er noch ein paar autobiografische Zeilen, auch zu seiner finanziellen Lage: 250 Dollar habe er in den beiden zurückliegenden Jahren verdient, viel zu wenig, um sich und seine Familie zu ernähren. Und dass, „obwohl ich 28 Jahre lang Weltschachmeister war“.
Wilhelm Steinitz, um 1866
28 Jahre? Ja, so hatte es Steinitz zeit seines Lebens gesehen. Doch offiziell dauerte seine Ära als erster Weltmeister acht Jahre, von 1886 bis 1894. Arm endete das Leben dieses großartigen, nur etwa 1,50 Meter kleinen Mannes. Reich war das, was er der Schachwelt hinterließ. Steinitz gilt als Begründer des modernen Schachs. Mit seinen neuartigen Ideen revolutionierte er das Spiel, welches er selbst erst relativ spät erlernt hatte, mit zwölf Jahren.
Steinitz wurde am 14. Mai 1836 als neuntes Kind einer Schneiderfamilie im Prager Ghetto Josefstadt geboren. Er war der beste Schachspieler Prags, als er mit 21 Jahren aufbrach, um in Wien am Polytechnikum zu studieren. Häufiger sah man ihn jedoch in den Kaffeehäusern sitzen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit Schachspielen, etwa im Café Rebhuhn. Es dauerte nicht lange, da galt der kleine, gehbehinderte Steinitz als der beste Spieler der Stadt. Die Wiener Meisterschaft 1861 gewann er souverän mit 30 Siegen, drei Remisen und bloß einer Niederlage.
Ins pulsierende Schachleben
Deswegen schickte ihn die Wiener Schachgesellschaft im Jahr 1862 zum großen Turnier nach London, wo er, immerhin, auf Anhieb Sechster wurde. Sein zeitgemäß taktisch geprägter Spielstil ähnelte zu jener Zeit noch denen anderer Meister. Zum Beispiel war Steinitz’ Angriffssieg gegen Mongredien für den romantischen Schachvirtuosen Adolf Anderssen „die mutigste und glänzendste Partie des gesamten Turniers“.
Steinitz verlegte seinen Wohnsitz nach England, angetan von Londons pulsierender Schachszene, den größeren Verdienstmöglichkeiten und dem herzlichen Empfang, der ihm dort bereitet worden war. Flott lernte er die Feinheiten der englischen Sprache, und auch sein Schachspiel wurde immer ausgefeilter. Nachdem er Anderssen, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts der weltbeste Spieler gewesen war, in London 1866 in einem Wettkampf mit 8:6 bezwingen konnte, ernannte Steinitz sich selbst zum Weltmeister. Ihm blieb jedoch die allgemeine Anerkennung verwehrt, zumal der genialische Amerikaner Paul Morphy, der sich inzwischen völlig vom Schach zurückgezogen hatte, noch lebte. Morphy galt nach seiner eindrucksvollen Tour durch Europa 1858/59 als die inoffi zielle Nummer eins der Welt. Er hatte in verschiedenen Wettkämpfen die damaligen Schachgrößen – darunter auch Anderssen – klar besiegt.
Nachdem Steinitz sowohl in Paris 1867 als auch in Baden-Baden 1870 anderen den Turniersieg überlassen musste, unterzog er sein Spiel einer kritischen Prüfung. Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen entwickelten sich allmählich jene teilweise revolutionär anmutenden Thesen, die er später vor allem in der englischen Zeitschrift The Field veröffentlichte. Dort leitete er von 1873 bis 1882 eine gut honorierte, europaweit beachtete Schachrubrik. Steinitz verkündete beispielsweise, dass viele der berauschenden Opferangriffe seiner Zeitgenossen bei besserer Verteidigung nicht zum Erfolg hätten führen dürfen. Angreifen solle man in der Regel erst, wenn die eigenen Figuren entwickelt seien und die gegnerische Stellung bereits Schwächen aufweise. „Mein Sinnen war nun darauf gerichtet, eine einfache und sichere Methode zu finden, um diese Schwächen der feindlichen Stellung herbeizuführen“, schrieb Steinitz.
En passant
Unter Spionageverdacht
Steinitz’ Lehrbuch The Modern Chess Instructor erschien im Frühjahr 1890. Als Tschigorin es zu Gesicht bekam, wies er darauf hin, dass zwei der darin vorgeschlagenen Varianten seiner Ansicht nach nichts taugten, eine aus dem Evans-Gambit (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.b4), die andere aus dem Zweispringerspiel im Nachzug (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6). Steinitz blieb natürlich anderer Meinung. Um die strittigen Fragen zu klären, verabredeten sie sich zu einem Wettkampf, bei dem die Züge alle zwei Tage per Telegramm übermittelt werden sollten. Steinitz spielte in New York, Tschigorin in Havanna. Die beiden Partien dauerten vom 23. Oktober 1890 bis zum 22. April 1891. Der Einsatz betrug 750 Dollar.
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