Ursula Isbel-Dotzler

Nelly - Ein Gespenst geht um!


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ihren Fahrrädern auf. Sie kommen jeden Tag und versorgen ihre Ponys. Ich halte Ausschau nach Mick, ihrem älteren Bruder, aber er ist nicht bei ihnen.

      Emma rennt den beiden entgegen. Ich seufze erleichtert. Immerhin ein Problem weniger, denke ich.

      Über Tal und Höh’n

      Wir schleichen indianermäßig durch den Wald, flitzen über Spazierwege und robben durch ein Gebüsch. Dann erst erreichen wir auf Umwegen die Landstraße, die wir überqueren müssen, um auf den Eulenkopf zu kommen.

      Das alles könnten wir vom Rösslehof aus viel einfacher haben, aber Sammy will es so.

      „Ab sofort darf uns keiner mehr sehen“, sagt sie. „Spätestens heute Abend werden sie meinen Brief finden. Dann bist du die Erste, die sie sich krallen. Sie werden dich fragen und löchern und auf dich einlabern. Es ist besser, wenn du jetzt nicht mehr mit mir zusammen gesehen wirst.“

      „Und was soll ich dann sagen?“, keuche ich, während wir wie zwei gehetzte Kaninchen über die Straße hoppeln. August läuft voraus. Molly ist längst umgekehrt und nach Hause zurückgegangen.

      „Dass du nicht weißt, wo ich bin, klaro. Du hast von nichts eine Ahnung.“

      „Aber vielleicht hat Emma gesehen, dass du zu uns auf den Hof gekommen bist“, wende ich ein. „Oder Dani. Oder mein Vater.“

      Wir sind jetzt im Wald auf der anderen Seite der Landstraße untergetaucht. Schon geht es steil bergauf. Wir bleiben stehen und holen Atem.

      „Dann sagst du eben, ich wäre nur kurz da gewesen und gleich wieder verschwunden.“

      „Und was hast du gesagt? Ich meine, was soll ich ihnen sagen, was du gesagt hast?“

      „Überhaupt nichts. Oder nein, du behauptest, ich hätte dir erzählt, dass ich nach Freiburg fahre. Das ist schließlich nicht mal gelogen. Weil mir hier alles total stinkt. Und dass ich nicht mehr wiederkomme. Nie.“

      „Hm“, sage ich. Wir stapfen zwischen Tannen und Fichten den Hang hinauf. Dürre Zweige verfangen sich in unseren Haaren, und wir bleiben in den Brombeerranken hängen, die den Boden wie Fallstricke überziehen. Bald sind meine nackten Beine zerkratzt.

      „Ob sie mir das glauben? Ich meine, dass ich dich einfach so hab gehen lassen?“

      „Du kannst ja sagen, du hättest mich zurückhalten wollen, aber es hat nichts genützt, weil ich so wild entschlossen war.“

      Ich pfeife und rufe nach August. Er hat eine Spur aufgenommen und ist im Gebüsch verschwunden. Leider hab ich in der Aufregung vergessen seine Leine mitzunehmen.

      „August!“, schreie ich. „Komm sofort hierher! Bei Fuß, August, du verflixter Mistkäfer!“

      Endlich taucht er mit hängender Zunge und schuldbewusstem Gesicht wieder auf. Wir haben jetzt den Wald durchquert und erreichen eine schöne bucklige Hangwiese, auf der eine Quelle gluckst. Überall gibt es Wetterdisteln, Polster von Thymian und allerhand andere Kräuter, Moos und Farne.

      Über uns erstreckt sich ein Bergwald, dessen Tannen die steile Anhöhe hinaufwachsen. Dahinter kommt eine Mulde, die zwischen Felskuppen eingebettet liegt. Von da aus geht es durch eine Schlucht steil bergauf, an einem Wasserfall entlang.

      Hinter einer der Felskuppen, dem so genannten Eulenkopf, steht die Almhütte auf einer Wiese zwischen Tannen. Von hier aus kann man sie aber noch nicht sehen, denn sie wird ja vom Eulenkopf verdeckt. Es ist ein weiter Weg da hinauf. Von der Landstraße aus sind es bestimmt eineinhalb Stunden Fußmarsch.

      Plötzlich fällt mir etwas ein. „Sammy“, sage ich, „du hast wohl keine Kerzen dabei? Oder eine Taschenlampe?“

      Sammy sieht mich verdutzt an und schüttelt den Kopf. „Nein, hab ich nicht. Wieso?“

      „Weil’s in der Hütte bestimmt keinen Strom gibt, deswegen.“

      Erst jetzt wird uns klar, was wir alles nicht dabeihaben. Streichhölzer zum Beispiel. Denn schließlich muss Sammy sich mal etwas Warmes kochen können. Einen Tee oder eine Suppe zum Beispiel. Und natürlich gibt es da oben auch keinen Elektroherd. Suppenwürfel oder Teebeutel hat Sammy auch nicht eingesteckt.

      „In Freiburg hätte ich so was nicht gebraucht“, sagt sie vorwurfsvoll, als wäre ich an allem Schuld.

      Gehen wir die Sache mal andersrum an, denke ich und frage: „Was hast du denn alles dabei?“

      „Schokolade“, antwortet sie. „Und Cola. Und eine zweite Jeans und T-Shirts und einen Pulli und Unterwäsche. Und den Schlafsack. Und Waschzeug und eine Zahnbürste. Und meinen Walkman.“

      „Kein Brot?“, frage ich. „Und keinen Käse? Klopapier? Ein Taschenmesser?“

      „Klopapier! Wer steckt denn schon Klopapier ein, wenn er in die Stadt will? Das gibt’s doch überall, Mann!“

      „Da oben wahrscheinlich nicht“, sage ich.

      „Dann bringst du mir eben welches. Und Essensvorräte und Kerzen und ein Taschenmesser und so weiter. Aber du musst es total heimlich machen, kapiert? Keiner darf dich dabei erwischen!“

      Ich seufze, denn mir ist klar, dass Sammy sich das viel einfacher vorstellt, als es in Wirklichkeit ist. Einen Rucksack voller Sachen aus dem Haus zu schleppen, die Auffahrt entlang und über die Landstraße, ohne dabei gesehen zu werden, das ist schon ein Kunststück. Bei uns schlappt immer irgendeiner durch die Gegend. Und bestimmt braucht Sammy auch noch Decken und Handtücher und Konservendosen und warme Socken, denn jetzt werden die Nächte schon kühler. Einer, der wie ein Packesel herumläuft, ist ungefähr so unauffällig wie ein Dromedar in der U-Bahn.

      „Du schaffst das locker“, meint Sammy.

      Ich bin da nicht so sicher. „Aber bis morgen musst du warten“, sage ich. „Ich versuche mich gleich nach dem Frühstück abzusetzen. Kann aber auch sein, dass es später wird. Das kommt ganz darauf an, wie viele Leute ums Haus herumlungern.“

      Sammy ist nicht sehr begeistert von der Aussicht, eine Nacht ohne Licht in einer einsamen Berghütte verbringen zu müssen, mit nichts als einer Dose Cola und einer Tafel Schokolade. Aber sie sieht ein, dass ich heute nicht noch einmal den ganzen Weg bis zum Eulenkopf wandern kann. Das würde zu lange dauern. Ich käme auf dem Rückweg in die Dunkelheit. Und es ist besser, ich bin zu Hause, wenn Sammys Eltern bei uns anrufen oder auftauchen. Sonst vermuten sie gleich, dass ich mit Sammy zusammen bin.

      Endlich erreichen wir die kleine Almwiese hinter dem Eulenkopf. Die Sonne ist schon über die Felskuppen gewandert und die Hütte liegt im Schatten. Sie ist niedrig wie ein Hexenhaus und hat ein Dach aus Holzschindeln. Von den Fensterläden blättert die grüne Farbe ab. Sie sind geschlossen.

      Das alte Haus sieht verlassen und irgendwie traurig aus. Und fast ein bisschen unheimlich, finde ich. Aber das sage ich nicht zu Sammy.

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