Paul Keller

In deiner Kammer


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und plötzlich umhüllt werden von den weissen Sterbeschleiern, die keinen Ausblick gewähren, das ist so schlimm, wie lebendig begraben zu sein. Wo ist rechts, wo ist links, wo geht es zum Lande, und wo führt der Weg hinaus ins endlose Meer? Die Wasserrillen füllen sich; wie giftige Schlänglein rieseln sie um die Füsse, die graue Flut steigt empor, Sekunde um Sekunde, die Angst benebelt den Sinn, der Tod lauert an allen Enden. Dann schreie, schreie in der Todesangst, es hört dich niemand, die Wasser nur spielen um deine Füsse, und es gluckst und quillt und lacht um dich, den Verlorenen!

      „Sehen Sie, aus einer solchen Not hat mein Mann den Vater befreit. Ich sehe noch, wie er mit dem Nebelhorne hinauslief mitten in den dicken, heimtückischen Nebel hinein. Und der Ton des Hornes klang weiter, immer weiter und verlor sich. Ich stand hier allein, und damals bangte ich um zwei! Aber er brachte ihn, bewusstlos, doch lebend. Damals habe ich diesem Helden gesagt, dass ich ihn liebe — ich zuerst!“

      „Und er wurde mein Mann. Es ist sehr einsam hier bei uns, und doch — ich bin ganz glücklich. Dreimal war ich noch in Berlin, aber es war mir immer sehr bange dort. Ich möchte nirgendwo anders sein als hier.“

      „Haben Sie keine Kinder gehabt?“ fragte ich.

      „O ja, einen Sohn!“ sagte sie ruhig. „Er wollte Seemann werden, wie alle die Burschen hier. Und da ist er auf seiner ersten Fahrt verunglückt. Mit vierzehn Jahren! Sein Schiff scheiterte in den japanischen Gewässern während eines Taifuns.“

      „Das ist fürchterlich,“ warf ich ein.

      „Das Meer will Opfer,“ sagte sie langsam. „Ich war einmal drüben.“

      „In Japan?“ fragte ich erstaunt.

      „Ja,“ sagte sie milde; „ich hab’ es möglich machen können, weil ich noch mein Erbteil hatte. Ich wollte dem Jungen noch einmal nahe sein.“

      „Ist denn seine Leiche gelandet?“

      „Nein, nein,“ sagte sie, „ich hab’ bloss über die Stelle im Meere fahren können. Aber ich war ihm doch nahe.“

      Das war eine Mutter! —

      Sie lächelte wieder.

      „So kommt es, dass wir so aneinander hängen. Wir sind so ganz aufeinander angewiesen.“

      Inzwischen kam Schmitt.

      Wir blieben auf der Bank sitzen. Der Abend kam. Das blassgelbe, lehmige Meerwasser wurde für eine Weile vom Abendgolde überschüttet, die kleinen Fensterscheiben blitzten, und selbst das kurze fahle Gras schimmerte goldiggrün. Da erschien mir — was ja niemals sein kann — die Hallig schön.

      Die Nacht stieg herauf. Da drang ein weher, klagender Ton an unser Ohr. Das klang so melancholisch, wie ich selten etwas gehört habe. Ich blickte fragend auf Schmitt.

      „Es ist eine Seeschwalbe,“ sagte er. „Die Tierchen leben paarweise in grosser Zärtlichkeit zusammen. Wird eines von dem Paare getötet, so klagt das andere so lange, bis es auch stirbt.“

      Frau Regina schmiegte sich fest an ihren Mann, und er legte den Arm um sie.

      Ich hatte noch oft Gelegenheit zu sehen, wie unzertrennlich die beiden Ehegatten lebten. Sie waren meist beisammen. Er sass bei ihr in der kleinen Küche, und es geschah, dass sie während des Unterrichts bei ihm in der Schulstube war. Dann sass sie in einer Bank wie ein grosses Kind und hörte ihm schweigend zu.

      Der Halligschullehrer behauptete, er könne die Einsamkeit nicht vertragen; er müsse immer Gesellschaft haben. Und er hatte auch immer Gesellschaft, immer dieselbe. Die vier Monate, da sie in Japan war, sind ihm länger geworden als vier Jahre. Er ward krank in der Zeit.

      Und als sie zurückkam, hat er sogar auf den toten Knaben vergessen. So überselig war er.

      Ans Festland kamen sie selten und dann immer zu zweien.

      „Es ist nichts da drüben,“ sagte Schmitt, „man ist nicht allein; man kann sich verlieren.“

      Ich wusste, dass beide die stille Hoffnung hatten, sie würden einmal zusammen sterben. Ja, sie beteten darum.

      Einmal war eine fürchterliche Nacht. Das Meer donnerte und brauste, und der Sturm heulte über das schwarze Wasser. Die Hallig war von der rollenden See überflutet, und nur die Menschenhäuser auf ihren Werften ragten über die grausige Flut. Mir erstarb das Wort auf den Lippen vor Entsetzen, wenn eine Woge ans Fenster schlug oder das ganze Haus zitterte und bebte in dem Ansturm der Elemente. Im stillen machte ich meine Rechnung mit dem Himmel.

      In der Wohnstube brannte die Petroleumlampe, und Frau Regina bereitete den Tee. Schmitt sah ihr lächelnd zu.

      „Fühlen Sie sich so sicher?“ fragte ich endlich.

      Er schüttelte den Kopf.

      „Das Meer ist Gottes Kind, und wir sind Gottes Kinder,“ sagte er. „Aber ein Unglück kann schon geschehen. Der Edystone ist ja eingefallen, was ist da so ein Häuslein! Aber ich denke, die Regierung hat schon Geld genug für ein neues.“

      „Und um etwas anderes ist es Ihnen nicht?“

      „O ja, — um Sie! Aber ich glaube, so schlimm wird’s diese Nacht nicht.“

      Ja, ich glaubte es; wenn das Haus barst und die Wellen hinaufkrochen bis zum obersten Fenster, die letzte tödliche Woge würde zwei umschlungene Menschen finden mit friedlich-stillen Gesichtern.

      Ich war längst wieder zu Hause, da bekam ich eines Tages einen Brief mit Schmitts Handschrift.

      Freudig öffnete ich das Schreiben, denn ich hoffte auf gute Nachricht von den Freunden. Da stand auf dem Briefbogen nur ein Satz:

      „Denken Sie mal: meine Frau ist gestorben. Schmitt.“

      Ich stand wie gelähmt, ich wollte es nicht begreifen. Kein Trauerabzeichen hatte der Brief, nur den einen Satz enthielt er. Und in solcher Fassung!

      Aber das ganze furchtbare Weh des Vereinsamten, Zurückgebliebenen lag doch in diesem einen Satze.

      Er konnte es wohl noch nicht begreifen, er mochte wohl noch wie ein Ungläubiger vor seinem Verluste stehen.

      Ich schrieb ihm; ich suchte ihn auf, sobald es mir möglich war.

      Ein Schiffer setzte mich über. Das Schulhaus stand einsam. Da fand ich ihn am Grabe Reginas. Er war ganz grau geworden.

      Ich nahm ihn zärtlich an der Hand.

      „Sind Sie täglich hier?“ fragte ich.

      „Immer, manchmal auch in der Nacht.“

      Mich fröstelte.

      „Sie sollten’s nicht tun, lieber Freund, es zehrt doch so an Ihrer Seele.“

      Er lächelte müde.

      „Ich muss es ja tun, — sie ist ja meine Einzige. — Ich bin ihr nahe — nur, dass sie nicht reden kann, — dass ich sie nicht sehen kann. — Ich möchte sie so gern einmal sehen! — Ich gäb’ mein ganzes Geld für fünf Minuten.“ —

      Die Nebel brauten um die einsame, tote Hallig, und ein klagender Laut kam vom Strande herüber. Bald darauf zog eine Seeschwalbe müde und krank an uns vorbei.

      Auch er musste sterben. Er würde sich zu Tode trauern. Und es gab keine Rettung. Es wäre Wahnwitz gewesen, ihn von der Hallig fortnehmen zu wollen.

      Und kaum war ich heimgekehrt, da bekam ich einen neuen Brief, der war kaum noch zu lesen.

      „Kommen, kommen! Regina ist fort!“

      Ich nahm Urlaub und reiste.

      Als ich ins Schulhaus kam, kauerte er in einer Ecke der Wohnstube. Er erkannte mich kaum. Über seinem Geiste lag die Nacht.

      Endlich sprach er.

      „Auf der sichersten Stelle hab’ ich sie begraben! — Mauern lassen das Grab — Mauern! — — Aber das Meer hat die Hallig gefressen — gerade an der Stelle! — — Verfluchte