Iris Marion Young

Werfen wie ein Mädchen. Ein Essay über weibliches Körperbewusstsein


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Bestimmte beobachtbare und ganz alltägliche, typische Verhaltensweisen von Frauen in unserer Gesellschaft sollen einsichtig und in ihrer Bedeutung verständlich gemacht werden, sofern sie sich von männlichen Verhaltens- und Bewegungsweisen unterscheiden. Genau wie die existentialistische Beschäftigung mit der Situationsgebundenheit menschlicher Erfahrung beanspruche auch ich keine Allgemeingültigkeit dieses typischen weiblichen Körperverhaltens und der daraus abgeleiteten phänomenologischen Beschreibungen. Der hier entwickelte Ansatz nimmt lediglich für sich in Anspruch, die Modalitäten weiblicher Körperexistenz für Frauen in zeitgenössischen, fortgeschritten industrialisierten, städtischen Handelsgesellschaften zu beschreiben. Teile dieser Darstellung können auf die Situation der Frau in anderen Gesellschaften und Epochen zutreffen oder auch nicht; es ist jedenfalls nicht das Anliegen dieses Aufsatzes zu entscheiden, auf welche anderen sozialen Umstände diese Beschreibung außerdem – wenn überhaupt – zutrifft.

      Auch das Ausmaß, in dem ich mich mit Körperexistenz und Bewegung befasse, ist begrenzt. Ich konzentriere mich hauptsächlich auf jene Arten von körperlichen Aktivitäten, die auf die Haltung oder Orientierung des Körpers als ganzen bezogen sind. Diese Aktivitäten erfordern große Bewegungen, Kraftanstrengung und die Konfrontation der körperlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten mit dem Widerstand und der Formbarkeit der Dinge. Ich befasse mich mit Bewegungen, in denen der Körper einen bestimmten Zweck erfüllen oder einer bestimmten Aufgabe gerecht werden will. Es gibt viele Aspekte weiblicher Körperexistenz, auf die ich nicht eingehen kann. Der wichtigste unter ihnen ist der des Körpers in seinem sexuellen Sein. Ein weiterer Aspekt der Körperexistenz, den ich unberücksichtigt lasse, ist strukturierte Körperbewegung ohne ein bestimmtes Ziel – Tanzen zum Beispiel. Abgesehen von Platzgründen beruht diese Begrenzung des Untersuchungsgebiets auf der hauptsächlich von Merleau-Ponty abgeleiteten Überzeugung, dass es die alltägliche, zweckgerichtete Orientierung des Körpers als ganzen ist, die die Beziehung eines Subjekts zu seiner Welt zuallererst bestimmt. Die Konzentration auf typische weibliche Verhaltensweisen und Bewegungen soll Aufschluss über die Strukturen weiblicher Existenz im Allgemeinen geben.7

      Bevor ich die Analyse beginne, sollte ich klären, was ich hier mit »weiblicher« Existenz meine. Genau wie für Beauvoir bezeichnet »Weiblichkeit« für mich nicht eine mysteriöse Qualität oder Essenz, die allen Frauen aufgrund ihres biologischen Frauseins zukommt. »Weiblichkeit« besteht vielmehr aus einer Reihe von Strukturen und Bedingungen, die die typische Situation des Frauseins in einer bestimmten Gesellschaft abstecken, ebenso wie auch die typische Weise, in der diese Situation von den Frauen selbst gelebt wird. Definiert man »Weiblichkeit« so, dann muss nicht notwendigerweise jede Frau »weiblich« sein – das heißt, es gibt nicht notwendigerweise unverkennbare Strukturen und Verhaltensweisen, die typisch für die Situation von Frauen wären.8 Diese Auffassung von »weiblicher« Existenz ermöglicht es zu sagen, dass einige Frauen der typischen Situation und Definition von »Frau« in unterschiedlichem Maß und unterschiedlichen Hinsichten entkommen oder diese überschreiten. Ich erwähne dies hauptsächlich, um darauf hinzuweisen, dass die hier angebotene Darstellung der Modalitäten weiblicher Körperexistenz nicht durch die Bezugnahme auf einzelne Frauen falsifiziert werden kann, auf die einzelne Aspekte dieser Darstellung nicht zutreffen – oder auf einzelne Männer, auf die sie auch zutreffen.

      Die hier entwickelte Darstellung verbindet die Einsichten der Theorie des gelebten Körpers, wie Maurice Merleau-Ponty sie formuliert hat, mit der Theorie über die Situation von Frauen, wie sie sich bei Beauvoir findet. Ich gehe davon aus, dass auf der allgemeinsten Beschreibungsebene Merleau-Pontys Beschreibung der Relation des gelebten Körpers zu seiner Welt, wie er sie in der Phänomenologie der Wahrnehmung entwickelt, allgemein auf jede menschliche Existenz zutrifft. Auf einer höheren Ebene gibt es allerdings einen besonderen Stil des Körperverhaltens, der typisch für die weibliche Existenz ist; dieser Stil setzt sich aus bestimmten Modalitäten der Strukturen und Bedingungen der Körperexistenz in der Welt zusammen.9

      Den Rahmen für die Entwicklung dieser Modalitäten steckt Beauvoirs Darstellung der Existenz der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft ab. Sie fasst sie als von einer grundlegenden Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz bestimmt auf.10 Die Kultur und die Gesellschaft, in der die weibliche Person sich bewegt, definiert die Frau als die Andere, als das nicht essentielle Gegenstück des Mannes – als bloßes Objekt und als bloße Immanenz. Damit wird die Frau sowohl kulturell als auch sozial ausgeschlossen aus der Subjektivität, Autonomie und Kreativität, die ein menschliches Wesen definieren und die in der patriarchalischen Gesellschaft ausschließlich dem Mann zugeschrieben werden. Zugleich jedoch ist die weibliche Person aufgrund ihrer menschlichen Existenz notwendig auch Subjektivität und Transzendenz – und sie weiß, dass sie es ist. Die weibliche Person, die die weibliche Existenz von Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft darstellt, lebt demzufolge einen Widerspruch: Als Mensch ist sie ein freies Subjekt, das an der Transzendenz teilhat, ihre Situation als Frau jedoch spricht ihr diese Subjektivität und Transzendenz ab. Meine These ist nun, dass die Modalitäten weiblicher Körperhaltung, Motilität und Räumlichkeit eben diese Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Subjektivität und bloßem Objekt-Sein zum Ausdruck bringen.

      Teil I bietet einige spezifische Beobachtungen über Körperhaltung, körperliche Beschäftigung mit Dingen, über Weisen, den Körper bei der Erfüllung von Aufgaben einzusetzen, und körperliches Selbst-Bild, die ich für typisch für die weibliche Existenz halte. Teil II ist eine allgemeine phänomenologische Darstellung der Modalitäten der weiblichen Körperhaltung und Motilität. Teil III entwickelt diese Modalitäten weiter mit Rücksicht auf die Räumlichkeit, die sie hervorbringen. Schließlich ziehe ich in Teil IV aus dieser Darstellung einige Folgerungen für ein Verständnis der Unterdrückung von Frauen; in diesem Teil werde ich auch einige weitergehende Fragen über weibliches In-der-Welt-sein stellen, die noch der Aufhellung bedürfen.

      I.

      Der grundlegende Unterschied, den Straus zwischen der Art, wie Jungen und wie Mädchen werfen, beobachtet, besteht darin, dass Mädchen den Körper nicht in dem gleichen Maße wie Jungen bei der Bewegung einsetzen. Weder strecken sie sich nach hinten, noch drehen sie den Oberkörper, noch nehmen sie Anlauf, noch machen sie Ausfallschritte oder beugen sich vor. Stattdessen bleiben sie relativ unbeweglich; die Arme ausgenommen, doch selbst die Arme werden nicht so weit ausgestreckt, wie sie ausgestreckt werden könnten. Werfen ist nicht die einzige Bewegung, bei der es einen typischen Unterschied in der Art und Weise gibt, in der Männer und Frauen ihren Körper je unterschiedlich zum Einsatz bringen. Betrachtet man die weibliche Haltung bei anderen körperlichen Aktivitäten, so zeigt sich, dass auch diese häufig durch das Ausbleiben des vollen Körpereinsatzes im Raum nach allen Richtungen charakterisiert sind – ganz wie im Fall des Werfens.

      Selbst bei den einfachen Körperorientierungen von Männern und Frauen wie etwa Sitzen, Stehen und Gehen lässt sich ein typischer Unterschied im Körperstil und in der Reichweite feststellen. Im Allgemeinen haben Frauen eine weniger offene Körperhaltung als Männer in Gang und Schritt. Meistens ist der Schritt, den Männer machen, im Verhältnis zum männlichen Körper als ganzem länger als der weibliche Schritt im Verhältnis zum weiblichen Körper. Ein Mann lässt seine Arme offener und freier schwingen als eine Frau es tut und hat meistens einen stärker ausgeprägten Rhythmus von Auf und Ab in seinem Gang. Obwohl wir jetzt im Vergleich zu früher mehr Hosen tragen und demzufolge unsere Sitzposition nicht mehr wegen unserer Kleidung einschränken müssen, sitzen wir immer noch oft mit beiden Beinen relativ nahe beieinander und verschränken die Arme vor dem Körper. Beim Stehen oder Anlehnen sind die Füße der Männer weiter voneinander entfernt als die der Frauen. Wir neigen auch eher dazu, unsere Hände und Arme so zu halten, dass sie unseren Körper berühren und schützen. Ein weiterer Unterschied lässt sich schließlich in der Art und Weise beobachten, wie Vertreter der beiden Geschlechter Bücher oder Päckchen tragen; Mädchen und Frauen tragen Bücher in den allermeisten Fällen an die Brust gepresst, während Jungen und Männer sie an der Seite baumeln lassen.