erklärte ich ihr, wie es um die Logik des Kapitäns bestellt war, daß die Schwägerin mit Zyanid ermordet worden war, daß er sie in der Mitte durchgesägt hatte, um a) ihren Magen zu entleeren und b) den Eindruck zu erwekken, man habe es mit einem kranken Mörder zu tun, falls sie unwahrscheinlicherweise gefunden würde.
»Und letzteres ist ihm ja ganz gut gelungen«, fügte ich säuerlich hinzu, ehe Katrine mit ihrem »das kann ich einfach nicht glauben« anfangen konnte.
Also sagte sie lieber:
»So etwas durchzuziehen, um den Eindruck zu erwecken, man sei geisteskrank, ist in meinen Augen ein Zeichen dafür, daß man das wirklich ist.«
So sieht man in unseren Kreisen tatsächlich die Welt, jedenfalls das, was uns an ihr nicht gefällt. Wir können es nicht hinnehmen, daß ein Mensch eine rationale Denkweise (unsere eigene) als Motiv für eine Handlung verwendet, die wir entsetzlich finden; dann machen wir aus dem Betreffenden lieber einen Geisteskranken, oder wir erklären kurz und gut die Vernunft für krank. Ich weiß noch, was passiert ist, als ich bei einem Kongreß unserer kleinen exklusiven Partei versuchen wollte, meinen Genossen zu erklären, was aus Napoleon einen genialen Feldherren machte – das ging nicht. Alle waren so damit beschäftigt, sich von allen Taten dieses Mannes zu distanzieren, daß sie sich nicht auf seine Prämissen und seine Logik einlassen konnten. Das istnatürlich gar nicht so unbegreiflich, da ein solches Einlassen – falls es geglückt wäre – eine Bestätigung dafür gewesen wäre, daß sich diese Logik auch irgendwo in diesen emanzipierten Parteigenossen wiederfand, was aber lieber nicht der Fall sein sollte. Aus diesem Grunde wollten sie auch nicht einsehen, daß Maos Militärstrategie – das Beste daran, das einzige Brauchbare sogar – um nichts von der früherer chinesischer Feldherren abwich und daß diese Strategie überraschende Ähnlichkeiten zu der von Clausewitz, Rommel, Guderian aufwies ...
Deshalb verläuft unser nun folgendes Gespräch ungefähr so.
Katrine sagt: »Glaubst du wirklich, diese Handlungsweise verteidigen zu können?«
»Nicht mehr als das, was seine Frau getan hat.«
»Versuch jetzt nicht, dich rauszureden!«
»Ich will mich gar nicht rausreden. Ich will nur sagen, daß ich ohne Probleme verstehen kann, wie er gedacht hat, aber das bedeutet natürlich nicht, daß ich das gutheiße.«
Das ist eines meiner Steckenpferde. Diese Haltung hat mich nämlich immer zu einem lauwarmen Kommunisten gemacht (und deshalb vielleicht zu einem unsterblichen Kommunisten?). Aber noch jetzt, als ich diesen alten Satz ausspreche, den ich ungefähr ebenso oft ausgesprochen habe, wie Katrine ihre Diagnosen verteilt hat, weiß ich, daß ich eine Lüge ausspreche. Ich kann die Taten dieses Mannes nämlich nicht nur verstehen, das heißt: meine eigene Verderbtheit darin erkennen. Ich kann sie sogar voll und ganz akzeptieren, kann sie lobenswert finden, da sie ja dieselbe Art von Moral zum Ausdruck bringen, die meine Loyalität meiner Frau gegenüber bedingt. Oder besser, wo ich doch offenbar so viel an ihr auszusetzen habe: meine Loyalität meinen Kindern gegenüber, dem wichtigsten Teil meines ganzen Lebens! Ich wäre willens, sie genauso zu beschützen, wie der Kapitän seine Frau beschützt hat, in meinen Augen stehen wir hier einem klassischen Beispiel für rührende, unerschütterliche Loyalität gegenüber, dem schönsten Zug der gesamten westlichen Kultur. Aber selbst die Konsequenz dieser Überlegung dringt nicht bis zu mir durch, weil es vorerst an Konsequenz mangelt; weil es hier nur um den Versuch eines Mannes des Wortes geht, der Wirklichkeit zuvorzukommen. Deshalb werde ich nicht erregt, ich werde nur von einer weiteren Dosis theoretischer Langeweile, Übelkeit fast, überwältigt.
»Was ist los, John?« fragt Katrine ängstlich.
»Nichts ...«
Ich wende mich um und sehe alles, was mir an ihr mißfällt, was ich liebe, sehe, daß unsere Beziehung, so, wie sie sich in den letzten fünfzehn Jahren ergeben hat, auf derselben Grundlage beruht, die den Kapitän in den Abgrund gerissen hat, die ihn zum Deckenbalken führte, die ihn dazu brachte, seine Schwägerin zu zersägen. Und der Gedanke, daß auch in denen unter uns, bei denen wir nicht ohne weiteres Störungen annehmen, sondern die Grundbedingungen eines friedlichen normalen Familienlebens als gegeben vermuten können, die Potentiale eines Mörders ruhen – schockiert mich nicht.
Das war gestern abend.
Jetzt ist Samstag und Wirklichkeit. Wir sitzen am Frühstückstisch. Die Kinder sind aufgestanden, sie stellen ihr Geschirr ins Spülbecken und verkünden, sie wollten »mal kurz nach draußen«, mein Sohn wird sich noch einmal am Sprungturm die Zähne ausbeißen, meine Tochter wird ihr Selbstvertrauen in ihrem neuen Badeanzug weiter stärken.
»Und seid vorsichtig. Vater und ich kommen in zwei Stunden nach.«
»Warum denn, um auf uns aufzupassen?«
»Aber nicht doch«, sagt Mutter.
»Doch«, sagt Vater. »Natürlich, um auf euch aufzupassen.«
»Die anderen Eltern machen das alle nicht.«
»Wenn du meinst ...«
»Na gut, aber laßt euch da unten bloß nicht häuslich nieder.«
Als wir endlich allein sind und die Angelegenheit fertig erörtern wollen, die gestern abend nicht fertig erörtert wurde, sage ich:
»Das mit dem Mord vergessen wir jetzt, was?«
»Warum denn?«
»Weil wir die Wahrheit nie erfahren werden. Wir können uns nicht den ganzen Sommer damit verderben, daß wir nach etwas suchen, das es nicht gibt – ich muß einen Roman schreiben.«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Na gut, von mir aus. Jan und Bente kommen heute abend übrigens mal vorbei, ich habe sie zum Essen eingeladen.«
»Na, dann kommen wir auf jeden Fall auf andere Gedanken.«
»Worauf denn, zum Beispiel?« lächelt Katrine, meine Liebste, und wir lachen, denn unsere Treffen mit diesem Ehepaar haben uns schon manche blöde Meinungsverschiedenheit eingebrockt. Sie sind die Art von Freunden, die man sein ganzes Leben hat, während man sich immer wieder fragt, ob man nicht bald mit ihnen brechen soll.
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