Rosemarie Dingeldey

Es war, als würde ich fallen


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Die anderen Schwestern waren giftig, wir trauten uns nicht, uns zu wehren, denn das wäre auf uns zurückgefallen.

      Meine Gefühle waren wie unter einem Gipsverband. Es fühlte sich an, als sei mein Körper ausgehöhlt. Wenn das Essen auf den Tisch kam, schlossen die Schwestern die Toilette ab. Niemand sollte mit dem Messer auf der Toilette verschwinden und sich etwas antun. Das Besteck wurde auf die Holztische geworfen. Das Geräusch erschütterte mich jedes Mal. Seltsames Gerede am Tisch. Es schmeckte mir nicht, ich nahm in der Zeit zehn Kilo ab. Eine Holländerin am Tisch sagte bei jeder Mahlzeit dasselbe: »Butter ist Nervenfutter.« Damals waren alle auf einer Station, eine Rauschgiftabhängige, die seltsame Tänze aufführte, eine Mörderin und andere, die gar nicht ansprechbar waren. Eine dicke Frau war stark geschminkt und stopfte Unmengen von Schokolade in sich hinein.

      Meine Mutter konnte jetzt öfters kommen. Nach der Mittagsruhe stand sie unten, eine Schwester öffnete das große Holzportal. Sie stand da in ihrem kurzen grauen Mantel und schaute mich aufmunternd an. Es war das einzige, was mich ein wenig erfreute: wenn meine Mutter kam. Wir gingen in dem Park spazieren, am Anfang war ich schwach und ging verkrampft neben ihr her. Die Medikamente, die meine Seele ins Gleichgewicht bringen und meine Gedanken in die richtigen Bahnen lenken sollten, hatten enorme Auswirkungen auf meinen Körper. Mein Blick war starr, meine Bewegungen steif. Ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren.

      Ich weiß nicht, ob man mir erklärte, was Elektroschocks sind. Ich wollte sie nicht haben, weil ich dachte, man bringt mich damit um. Ich bekam vier davon. Später sah ich mal im Fernsehen: Ab vier Elektroschocks kann es gefährlich werden für das Gehirn. Meine Ärztin war nett. Ich verstand aber oft nicht, was sie von mir wollte, wenn sie mit mir redete. »Fräulein Spalek«, sagte sie zu mir, das war fremd, ich war es gewohnt, mit dem Vornamen angeredet zu werden. Eine Schwester fragte meine Mutter, ob so eine Krankheit schon einmal in der Familie vorgekommen sei. Meine Mutter verneinte, dachte nicht an eine Tante und Großtante, die ebenfalls die gleiche Krankheit hatten. Es waren Verwandte meines Vaters, bei denen sich die Krankheit aufgrund ihrer Lebenssituation anders geäußert hatte. Eines Tages fuhr meine Mutter mit mir raus, wir verließen das Klinikgelände. Sie durfte das nicht, aber wir machten es einfach. Oft brachte sie was Leckeres zum Essen mit. Als Schwestern behaupteten, ich hätte schon einen Joghurt gegessen, wurde sie ärgerlich und meinte, ihre Tochter lüge nicht. Meine Mutter wird selten ärgerlich. Ich sah den Schmerz im Gesicht meines Vaters, als er mich besuchte. Seine fröhliche Tochter, wie konnte das geschehen?

      Nach vier Monaten wurde ich entlassen. Für mich kam es überraschend, zum ersten Mal fühlte ich so etwas wie Freude. Im letzten Monat meines Klinikaufenthaltes war ich meistens am Wochenende zu Hause gewesen. Als ich versuchte, auf meiner Geige zu spielen, brachte ich kaum einen Ton heraus. Ich konnte nicht lesen, da die Konzentration völlig fehlte. Ich wollte möglichst bald wieder zur Schule gehen. Ich war bis zur elften Klasse in ein katholisches Mädchengymnasium gegangen, die Direktorin hatte mich in die zwölfte Klasse versetzt, ich sollte den Anschluss nicht verpassen. Die Ärztin sagte zu meiner Mutter bei meiner Entlassung: »Ihre Tochter wird nie ohne Medikamente leben können.« Meine Mutter war verzweifelt. Die Ärztin sollte recht behalten.

      Meine Eltern sagten nur ganz wenigen Bekannten, in welcher Klinik ich war. Es war eine große Psychiatrie, ein Landeskrankenhaus, das in der ganzen Gegend als »Irrenhaus« bekannt war. Meine Eltern schämten sich nicht, weil ich in dieser Klinik war, sie wollten mir aber das Zurückkommen erleichtern.

      Es ist schwer, meine Krankheit zu beschreiben. Was erlebt man, wenn man eine Psychose hat? Schließlich ist es auch schwer Schmerzen zu beschreiben, die ein anderer nicht kennt. Wahrscheinlich ist eine Psychose bei jedem Kranken anders, weil jeder Mensch anders denkt und anders empfindet. In späteren Jahren kam bei mir eine psychotische Episode nie aus heiterem Himmel. Auch wenn ich die Anzeichen zunächst nicht erkannt habe, wurde mir später klar, was nicht richtig gelaufen war. Einem Zusammenbruch, einem »Ausflippen«, gingen immer Wochen oder auch Monate großer Betriebsamkeit und Gefühlsschwankungen voraus. Gefühlsschwankungen und Aktivität sind aber nicht immer krankhaft, deshalb sind die Anfänge einer Manie, die in eine Psychose münden kann, so schwer zu erkennen. Man fühlt sich zunächst auch wirklich gut, aktiver und kreativer als sonst, und man wundert sich, was man alles bewältigen kann. Gefährlich wurde es bei mir immer, wenn Schlaflosigkeit dazu kam. Da musste ich mit Beruhigungsmitteln reagieren. Als junges Mädchen kannte ich mich nicht so gut und wusste nicht, wie ich das alles einordnen konnte. Deshalb war ich oft in den Kliniken. Wenn ein bestimmter Punkt überschritten war und ich nicht mehr zur Ruhe kam, gingen meine Gedanken durcheinander. Ich überbewertete das, was in meiner Umgebung geschah, verstand manches falsch, fühlte mich in die Enge getrieben und beobachtet. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch ein normales Leben führen, aber wenn ich jetzt keine Medikamente nahm, steigerte sich das Ganze bis zu einer Psychose. Ich war total unruhig, sagte Dinge, die meine Mitmenschen nicht einordnen konnten, und dann gab es kein Zurück mehr: Ich musste in eine Klinik.

      Ich schrie, schlug um mich, wehrte mich gegen Krankenschwestern und -pfleger und bekam Spritzen, um ruhig gestellt zu werden. Ich hatte Todesängste, Angst hypnotisiert zu werden. Wenn eine Psychose relativ plötzlich kam, stellte ich mir manchmal vor, dass bestimme Farbenfolgen etwas zu bedeuten hatten. Ich kann nicht sagen, was die Farben bedeuten sollten, ich bildete mir nur ein, sie hätten mir etwas zu sagen. Namen spielten auch eine Rolle. Ein bestimmter Vorname sollte mir etwas sagen. Was das war, weiß ich nicht, es war verworren und ich verstand es damals auch nicht, viel weniger heute. Ich dachte auch, ich müsse bestimmte Worte aussprechen, vielleicht Verse aus der Bibel. Würde ich dann zu einer Erlösung beitragen, würde Jesus dann wiederkommen auf die Erde? Warum konnte ich nicht normal denken?

      Die Verwirrung trat in den Psychosen anfallsartig auf, ich war immer nur kurzfristig verwirrt, kam dann wieder zu mir und konnte danach klar denken. Es war wie ein Erwachen, und ich stellte fest, dass ich mir vieles nur eingebildet hatte.

      Bei mir waren die psychotischen Gedanken immer verbunden mit meinem Glaubensleben. Ich habe erlebt, dass auch andere Menschen in der Psychiatrie laut Kirchenlieder sangen oder sich für Jesus hielten. Wie weit sie mit dem Glauben zu tun hatten, weiß ich nicht. Ich denke aber, der Glaube und all das Mystische, das mit dem Glauben zu hat, geht sehr tief in unser Denken, berührt uns im Innersten und kommt dann auch in dem krankhaften, verwirrten Denken zum Ausdruck. Es mag für andere gläubige Menschen unverständlich sein, dass ich in solchen Phasen meines Lebens die Bibel eher zur Seite gelegt habe, weil mich bestimmte Gedanken beunruhigt hätten.

      Ich dachte, der normale Alltag könnte nach meiner ersten Entlassung bald wieder beginnen. Wie sehr hatte ich mich da getäuscht! Ich war unbeholfen, unsicher, konnte nicht alleine sein, weil ich nichts mit mir anfangen konnte. Wenn ich singen wollte, kamen falsche Töne heraus, und ich war in allem ziemlich ungeschickt. Ich konnte nicht weinen und wenn ich lachte, klang es unnatürlich. Ich hatte das Gefühl, mein Lachen war wie ein Krampf, den ich nicht kontrollieren konnte. Auch über meinen Speichel hatte ich keine Kontrolle und beim Essen musste ich ganz vorsichtig sein, damit ich mich nicht verschluckte. Meine Speiseröhre schien durch die Medikamente verengt zu sein. Besonders schlimm waren meine Konzentrationsschwierigkeiten, weil ich deshalb nicht lesen konnte. Wie sollte ich da wieder in die Schule gehen? Am liebsten kroch ich zu meiner Mutter ins Bett wie ein kleines Kind. Meine Sprache war oft undeutlich und man konnte mich schlecht verstehen. Ich wollte gern wieder in die Schule gehen. Ich sehnte mich nach meinen Klassenkameradinnen, die mir ein Päckchen mit Weihnachtsgebäck in die Klinik geschickt hatten.

      Aufgrund der Konzentrationsstörungen blieb ich zu Hause, half manchmal meiner Mutter im Haushalt oder war im Uhrengeschäft meiner Eltern. Mein Vater ist Uhrmacher und betrieb ein Uhren- und Schmuckgeschäft, in dem es manchmal Geldsorgen gab. Diese Nöte meiner Eltern betrafen auch mich und ihre Probleme waren auch meine. Heimlich steckte ich ihnen Geld zu, wenn Rechnungen zu bezahlen waren. Meine Schwester, die zwei Jahre älter ist als ich, war bereits ausgezogen. Nach dem vielen Streiten in der Kinderzeit waren wir Freundinnen geworden. Sie ist ruhiger als ich, ich galt immer als die Unkomplizierte, Aufgeweckte. Schon als kleines Mädchen war ich schlagfertig und ging gern in die Schule, weil da immer etwas los war. Mit den anderen Mädchen reden und Spaß haben, das gefiel mir.

      In der Schule hatte ich vor allem mit Mathematik Schwierigkeiten.