des schlesischen Pfarrers Georg Klepper und seiner Frau Hedwig geb. Weidlich. Die Schwestern Margot und Hildegard sind bereits sieben bzw. fünf Jahre alt, als sich der kleine Erdenbürger anmeldet. Am 26. April tauft Georg Klepper seinen Sohn, bezeichnenderweise mit Jordanwasser. Als Taufspruch gibt er ihm einen Vers aus dem Buch des Propheten Jesaja mit auf den Lebensweg: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!«1
Jochen Klepper ist also in ein evangelisches Pfarrhaus hineingeboren worden, und das sind in der Blütezeit des deutschen Kaiserreichs denkbar gute Startbedingungen. Als zweiter Pfarrer im Oderstädtchen Beuthen, Landkreis Glogau, Regierungsbezirk Liegnitz, genießt der Vater gesellschaftliches Ansehen. Dazu verfügt er von väterlicher Seite her über ein gewisses Vermögen und kann sich und seiner Familie einen weit überdurchschnittlichen Lebensstandard erlauben. Auch die Mutter ist buchstäblich nicht von schlechten Eltern. Ihr Vater war Amtsgerichtsrat und Kreisrichter erst in Hultschin, später im oberschlesischen Neustadt. Ihr Großvater mütterlicherseits hat aus den Freiheitskriegen 1815 eine Frau mitgebracht, eine Comtesse Rohan – wahrscheinlich aus einer Nebenlinie des weit verzweigten, ursprünglich bretonischen Adelshauses. Ein Schuss französische Noblesse, Stilbewusstsein, Kunstsinn und eine frankophile Ader hat sich auch zwei Generationen später noch erhalten und wird auf die Klepper-Kinder abfärben. Auf Margot, Hildegard, Jochen – und die jüngeren Brüder, die noch nachfolgen werden: Erhard (*1906) und Wilhelm (*1915).
Stadt, Land, Fluss
Stadt, Land, Fluss – ein Dreiklang, der die Kinder- und Jugendjahre von Jochen Klepper prägt. Anders als die wirtschaftlich brummende oberschlesische Industriestadt Beuthen mit ihren rund 60 000 Einwohnern ist Beuthen an der Oder um die Jahrhundertwende ein kleines, nur an Traditionen und Geschichte reiches Städtchen von etwas mehr als 3 000 Seelen. Im 17. Jahrhundert hatte dieses Beuthen an der Oder eine eigene protestantische Universität beherbergt – nach dem Stifter Freiherr Georg von Schönaich »Schönaichianum« genannt. Im Dreißigjährigen Krieg war die Stadt x-mal besetzt, geplündert und verheert worden – durch Kosaken, durch Lichtensteiner Dragoner, durch Kroaten, Sachsen, Schweden, Kaiserliche und wieder Schweden. Nach der Gegenreformation hat erst der Vertrag von Altranstädt 1707 Religionsfreiheit für die evangelischen Einwohner der Stadt gebracht. Die evangelische Kirche, in der Georg Klepper seit 1892 seinen Dienst versieht, steht seit 1744 auf dem Gelände des ehemaligen Schönaichianums. Und wovon leben die Beuthener? Von der Oder und dem Handel, den sie bringt und ermöglicht, vom Obst- und Ackerbau, neuerdings auch von der Braunkohle, die in der Umgebung im Tagebau gefördert wird.
1907 wird nach mehr als 260 Jahren wieder eine Brücke über die Oder geschlagen, eine elegante eiserne Bogenbrücke. Die Stadtväter lassen sich das Bauwerk 575 000 Mark kosten in der Hoffnung, es möge der Wirtschaft einen kräftigen Schub verleihen. Die feierliche Einweihung am 16. Juni 1907 ist das erste gesellschaftliche Großereignis, das der zu diesem Zeitpunkt vierjährige Jochen bewusst miterlebt. Ein Jahr später bekommen Beuthens Straßen Gasbeleuchtung – nach dem Eisenbahnanschluss und der Oderbrücke das dritte Zeichen für die Ankunft des Städtchens in der Moderne.
Das Land: Beuthen liegt in Niederschlesien, und Schlesien insgesamt ist ein kultiviertes Land im doppelten Sinn. Die Landschaft rechts und links der Oder ist über Jahrhunderte von Menschenhand gestaltet, umgestaltet, bebaut, bearbeitet worden. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist Schlesien aber auch ein künstlerisch und literarisch fruchtbares Land. Martin Opitz, der in Beuthen am Schönaichianum studiert hat, gilt als »Vater der deutschen Dichtkunst«. Zusammen mit Andreas Gryphius, Johannes Scheffler und anderen hat er von Schlesien aus die deutschsprachige Barockdichtung geprägt. Einen vergleichbaren Stellenwert hat Joseph von Eichendorff für die Romantik, Gerhart Hauptmann für den Naturalismus. Nicht ohne Grund hat der Germanist und Volksliedforscher Rochus von Liliencron Schlesien als »Land der 666 Dichter« bezeichnet. Das wirkt sich natürlich auch auf den Schulunterricht aus und prägt sich dem kollektiven Bewusstsein der Schlesier ein – also auch der Familie Klepper.
Der Fluss: Die Oder ist nicht der längste und auch nicht der wasserreichste Strom in Mitteleuropa, aber sie hat ein paar markante Eigentümlichkeiten: Träge mäandert sie durch Schlesien und Pommern, anders als Rhein und Donau nicht über weite Strecken zwischen Gebirgszügen eingezwängt. Zwischen Breslau und der Mündung regulieren seit Mitte des 19. Jahrhunderts keine Stauwerke mehr ihren Lauf. Dafür sind die Ufer über Hunderte von Kilometern durch Buhnen gegliedert. Sommerliches Badevergnügen in den fast strömungsfreien Bereichen zwischen den Buhnen, dazu die Schifffahrt, der Handel und die Fischerei auf dem Fluss – die Oder bietet neugierigen Kindern und Heranwachsenden allerlei Aufregendes.
Die Kinderjahre verbringt Jochen Klepper mit seinen Geschwistern im »Sukkerschen Haus« in der Beuthener Bahnhofstraße. Dort hat der Vater eine ganze Etage im Hochparterre gemietet, mit direktem Zugang zum Garten über eine Veranda. Später, Georg Klepper ist inzwischen zum Oberpfarrer aufgerückt, lebt die Familie »ganz für sich alleine« in einem größeren Haus in der Finkenstraße – »es galt als einigermaßen herrschaftlich.«2
Kinderjahre
Jochen wird schon als kleines Kind von Asthmaanfällen geplagt, ist eher zart und kränklich. Deshalb besucht er auch nur ein Jahr lang die evangelische Volksschule im kombinierten Pfarr- und Schulhaus, unter der Leitung des Rektors Krüger. Danach bekommt er zusammen mit einigen anderen Kindern seines Alters Privatunterricht beim Vater in der heimischen Wohnung. Damit hat der Kleine mehr von seinem Vater, als man es sonst erwarten könnte. Denn Georg Klepper hat in seiner Pfarrgemeinde gut zu tun: ca. 100 Taufen, 30 Trauungen und 70 kirchliche Beerdigungen im Jahr, jeweils rund 100 Konfirmanden zu betreuen – abgesehen von den Predigtdiensten, der Frauenhilfe, dem Jungmänner- und Jungfrauenverein. Und natürlich muss ein Pfarrer der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union auch noch allerlei gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen.
So sehr Georg Klepper in seiner Arbeit aufgeht, er versteht es auch, seine Freizeit zu genießen. Er ist hochmusikalisch (wie seine Frau), Hausmusik gehört bei den Kleppers zum guten Ton, und der Pfarrer leitet selbst ein kleines Orchester. Er ist naturverbunden und entführt seine Kinder oft in die Umgebung. Gehört aber auch zu den ersten Bürgern von Beuthen, die ein eigenes Auto besitzen und selbst fahren. Und einen Filmapparat schafft er sich an und unterhält damit die zahlreichen Gäste, die sich in der Wohnung der Kleppers einstellen. Im Sommer reist er regelmäßig mit der ganzen Familie an die Ostsee. Er geht gern »auf, auf zum lustigen Jagen«. Er schwimmt in der Oder – der einzige Sport, den Jochen mit ihm teilt. Er packt spontan mit an, wenn es einen Karren zu ziehen oder eine Last zu tragen gilt. Er ist eine robuste und markante Erscheinung – sein Sohn wäre es bestimmt auch gern, bleibt aber schmal und blass.
Fotopostkarte mit rückseitiger Beschriftung: »Meiner lieben Lilli zum 62. Geburtstag von Ihrem Jochen.« 28.10.1918
Im Kreis der Geschwister erprobt Jochen Klepper erstmals sein schauspielerisches und dramaturgisches Talent. Da werden selbst ersonnene, biblische oder märchenhafte Stoffe zur Aufführung gebracht, in Rollenspielen oder mit dem vielköpfigen Puppentheater, das die Kinder selbst einkleiden. Jochens bester Freund in Kindertagen ist der jüngere Bruder Erhard. Mit ihm plant und fabriziert er in den Ferien unter anderem eine »Kunstzeitung« – Erhard als Illustrator, Jochen als Redakteur. Die Eltern lassen sie gewähren; der Ernst des Lebens kommt früh genug. Und der beginnt für Jochen Klepper formell im Alter von 14 Jahren mit dem Wechsel aufs Gymnasium, praktisch aber schon zweieinhalb Jahre früher, im August 1914 mit dem Ausbruch des Krieges.
Die Front ist anfangs keine 200 Kilometer entfernt. In der evangelischen Kirche wird erstmals am 5. August und von da an wöchentlich immer mittwochs eine »Kriegsgebetsstunde« abgehalten. Das Rote Kreuz richtet in Beuthen bereits 1914 ein Lazarett ein. Und dem Vater obliegt die traurige Aufgabe, evangelischen Familien die Nachricht vom Soldatentod ihrer Männer, Väter, Söhne zu überbringen. Todesnachrichten als Teil des Alltags – das hat sich dem jungen Jochen Klepper tief eingeprägt.