Ursula Isbel-Dotzler

Die Frau am Meer


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Nicht dass ich eine Expertin im Baumhausbau gewesen wäre, dazu hätten wir meinen Bruder Tobe gebraucht. Ich hatte bei solchen Unternehmungen früher immer nur Handlangerdienste geleistet.

      Ich folgte Rian und Sally ins Wohnzimmer, wo Rian den Fernseher anwarf. Zum Glück lief diesmal nur ein alter Mickymaus-Film. Eine Weile sah ich mit zu, wie Dagobert Ducks Geldspeicher zum tausendsten Mal von den Panzerknackern überfallen werden sollte; dann fragte ich: »Habt ihr Lust, mit mir auf die Burg zu gehen?«

      Rian sah mich an. »Penruan?«, sagte er. »Was willst du da oben?«

      »Mir die Burg ansehen, natürlich.« Ich gab mir Mühe, meine Stimme alltäglich klingen zu lassen. »Sie ist sicher sehr interessant, und das Wetter ist gerade richtig, um auf den Felsen zu klettern.«

      »Wir waren schon oben«, sagte Sally.

      »Da oben sind …«

      Sally unterbrach ihren Bruder. »Die alten Geister, klar, ich weiß. Aber nicht tagsüber, du. Da laufen zu viele Touristen herum, besonders jetzt, im Sommer.«

      Ich fragte: »Was für Geister?«

      »Oh, eine Menge«, erwiderte Rian. »Die von Verstorbenen. Solche, die von der Burgmauer ins Meer gesprungen sind. Oder einfach bloß runtergestürzt. Oder die, die umgebracht wurden, als sie Penruan überfallen und kaputtgeschossen haben.« Seine dunklen Augen waren unverwandt auf mich gerichtet. »Du zitterst ja«, fuhr er fort. »Hast du Angst?«

      Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und schüttelte den Kopf.

      »Er meint, sie finden keine Ruhe und steigen immer wieder aus dem Meer auf und spuken zwischen den Mauern herum«, erklärte Sally.

      »Und nachts stöhnen und schreien sie«, sagte Rian.

      »Aha«, sagte ich. »Woher weißt du das alles?«

      »Das weiß doch jeder. Die Leute, die hier wohnen, sagen es. Sie wissen es von ihren Eltern und Großeltern und so weiter.«

      Ich dachte an Mrs Potter. Erzählte sie den Kindern solche Schauermärchen?

      »Trotzdem würde ich gern mal auf die Burg gehen«, sagte ich.

      »Dann geh doch«, murmelte Rian.

      »Ich komme mit«, sagte Sally. »Aber nicht abends!«

      »Abends würde ich auch nicht raufgehen«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

      Sally stand auf. »Okay, aber dann müssen wir Jacken mitnehmen. Der Wind ist kalt da oben, weißt du.«

      Ich überlegte. Einerseits hatte ich seit meiner Ankunft, seit dem Augenblick, als ich aus dem Fenster gesehen und die Burg wieder erkannt hatte, keinen größeren Wunsch, als dort oben zu stehen, so als sei zwischen den alten Steinen die Lösung eines Rätsels verborgen. Andererseits scheute ich aber auch davor zurück, als wäre es ein Blick in den Abgrund, als könnte ich dort etwas entdecken, was mir vielleicht den Boden unter den Füßen wegziehen und mein ganzes Leben verändern würde.

      Außerdem durfte ich Rian nicht allein zurücklassen. Ich hatte für ihn und Sally Verantwortung übernommen, hatte versprochen, auf die beiden aufzupassen. Also konnten wir nur zu dritt gehen oder überhaupt nicht.

      »Ohne Rian können wir nicht gehen«, sagte ich. »Wie weit ist es?«

      Sally überlegte. »Sehr weit. Zu Fuß brauchen wir bestimmt zwei Stunden oder so.«

      »Aber nicht mit den Fahrrädern. Mit dem Rad ist es nicht mehr als eine halbe Stunde«, warf Rian unerwartet ein. »Du kannst Mamis Fahrrad nehmen, Fanny. Das hat sie gesagt.«

      Ich schöpfte Hoffnung. »Sollen wir morgen hinfahren, wenn das Wetter so bleibt?«, fragte ich. »Wir nehmen belegte Brote und Obst mit, machen Picknick am Strand und schwimmen, wenn es richtig sonnig ist.«

      Rian starrte schon wieder in den Fernseher. »Mal sehen«, murmelte er nur.

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