einer Weile aber setzte er sanfter, wie im Selbstgespräch hinzu:
»Gottes Wille geschehe! ...«
Dem Mädchen füllten sich die Augen mit Thränen. Beide verfielen gleich darauf in tiefes Sinnen. Lorenz Toporek dachte darüber nach, warum er auf der Reise nach Amerika sei, und wie das so gekommen war. Wie war es gekommen? Vor rund einem halben Jahre, im Sommer, hatte man ihm die Kuh gepfändet, weil sie auf fremdem Acker in's Futter gegangen. Der Nachbar, welcher sie gepfändet, verlangte drei Mark Schadenersatz. Toporek hatte nicht zahlen wollen, die Kuh blieb als Pfand. Man war in's Gericht gegangen, die Angelegenheit blieb schweben bis zur Fällung des Urteils, die Kosten wuchsen schnell von Tag zu Tag. Lorenz glaubte sich im Recht; ihn dauerte das viele Geld, er wollte das Recht erzwingen.
Aber es ließ sich nicht zwingen; er verlor den Prozeß. Die Prozeßkosten hatten sein Bargeld aufgezehrt, die Unterhaltungskosten der Kuh mußten durch Pfändung seines Inventars gedeckt werden. Man nahm ihm das Pferd, und da gerade die Ernte begonnen hatte, so konnte er sein Getreide nicht rechtzeitig einbringen, Regengüsse kamen, es war bald ausgewachsen. Toporek sah sich im Elend, noch ehe dasselbe wirklich da war; er verlor die Besinnung um so mehr, da er bisher ein wohlhabender Mann gewesen, und um die Gedanken an kommende Not zu bannen, griff er zu dem gebräuchlichsten Mittel, – er fing an zu trinken.
Im Wirtshause lernte er einen Agenten kennen, welcher unter dem Vorwande Flachskäufe abzuschließen, Menschen zur Auswanderung nach Amerika warb. Er versprach jedem Einzelnen dort so viel Land und Wald, als ganz Lipiniez zusammen nicht umfaßte. Zuerst glaubte Toporek nicht recht an die Erfüllung solcher Versprechungen, als aber der alte Jude, welcher Inhaber der Gastwirtschaft war, beistimmte und erzählte, er wisse von seinem Enkelsohn, daß man in Amerika Land geschenkt bekomme so viel man wolle, da leuchteten die Augen Toporeks begehrlich auf, er verkaufte seine ganze Habe und beschloß nach Amerika auszuwandern. Was sollte er denn noch hier? Die Not kam auf ihn zu, wie ein drohendes Ungewitter. Der Prozeß hatte ihn so viel Geld gekostet, daß er kaum noch einen Knecht würde halten können. Oder sollte er vielleicht betteln gehen hier, wo jedermann ihn kannte? Er ordnete bis Michaeli alle seine Angelegenheiten, dann hatte er den Rest seines Geldes und seine Tochter genommen und – nun war er auf dem Wege nach Amerika.
Die Reise hatte nicht zum besten angefangen. In Hamburg war ein großer Teil seines Geldes daraufgegangen. Er reiste mit seiner Tochter als Zwischendeck-Passagier, die Unendlichkeit des Meeres, das Schaukeln des Schiffes erschreckte ihn. Niemand verstand seine Sprache, er verstand die anderen nicht, man spottete über ihn und Maryscha.
Wenn zur Mittagszeit alles nach der Küche drängte, um sich vom Koch die Rationen verteilen zu lassen, da stieß man sie und drängte sie zurück, so daß oft nichts für sie übrig blieb und sie mit leerem Magen schlafen gehen mußten. Er fühlte sich einsam und verlassen mit seinem Kinde unter den fremden Menschen und nur Gottes Schutz über sich. Vor seiner Tochter verbarg er sorgfältig, was er dachte und fühlte; er frug nur immer, ob sie alle die neuen Dinge, welche sie zu Gesicht bekommen, nicht mit Staunen erfüllten. Er selbst traute niemanden, und zuweilen überfiel ihn eine Angst, daß diese »Heidenvölker«, wie er still für sich seine Reisegenossen nannte, sie beide eines Tages in's Wasser werfen, oder irgend einen Pakt mit dem Bösen zu unterschreiben zwingen könnten.
Das Schiff selbst, welches sich vom Dampfe getrieben, so von selbst fortbewegte und wie ein Drache pfauchte, erschien ihm verdächtig – eine unreine, gefährdende Gewalt. Eine kindische Furcht bemächtigte sich seiner beim Anblick so vieler Dinge, die sein Verstand nicht zu fassen vermochte. Thatsächlich befand sich dieser polnische Bauer, losgetrennt von der heimatlichen Scholle, wie er es war, in der gleichen Lage mit einem hilfs- und schutzbedürftigen Kinde.
Es war daher nicht zu verwundern, wenn jetzt der Kopf des auf der Rolle Schiffstaue sitzenden Mannes tief auf seine Brust herabsank unter der Last der Ungewißheit und der Sorgen. Seine Lippen murmelten leise den Namen seines Heimatdorfes »Lipiniez«; ihm war, als bringe die Sonne, die auch jenes Dorf beschien und der Luftzug, der über das Wasser zog, ihm Grüße von dort zu und die Frage der Nachbaren: »Wie geht es Dir Lorenz?«
Es waren Gedanken ganz anderer Art, welche Maryscha inzwischen beschäftigten, nur die gleiche Sehnsucht hatten sie mit denen des Vaters gemein. Sie flossen rückwärts mit dem Kielwasser des Schiffes, mit den Möven flogen sie den östlichen Gestaden zu. Kurz zuvor ehe sie abgereist waren, hatte sie in Lipiniez am Brunnen gestanden, daran mußte sie denken. Es war im Herbst, sie wollte Wasser schöpfen, die ersten Sterne blinkten eben am Himmelszelt. Sie zog am Schwengel den vollen Eimer herauf und sang dabei: »Jasiek will die Pferde tränken – Kasia gießt das Wasser aus« – (ihr wurde sehr wehmütig bei dieser Erinnerung). – Da tönte ein Pfiff vom Walde herüber, langgezogen, wie der Ton einer Saftpfeife. Jaschu Smolak wollte ihr damit sagen, daß er den Brunnenschwengel in die Höhe steigen gesehen und daß er sogleich von den Wiesen herkommen werde. Bald darauf ertönte Pferdegetrappel, die Erde dröhnte unter dem Galopp der Tiere, jetzt hielt er sie mit einem Ruck an, sprang vom Braunen herab und schüttelte seine Flachsmähne. Was Jaschu ihr damals gesagt, klang ihr noch jetzt wie Musik in den Ohren. Sie schloß die Augen und träumte, Jaschu stehe neben ihr und flüstere wie damals mit vor Aufregung bebender Stimme:
»Wenn Dein Vater sich durchaus nicht von der Auswanderung abbringen lassen will, so werde ich das Angeld auf den Jahreslohn bei Hofe zurückgeben, mein Anwesen verkaufen und Euch nachkommen ... Marysch mein«, – hatte er gesagt – »Dir nach fliege ich mit den Kranichen, mit den Enten durchschwimme ich die Wasser und als goldener Reif will ich die Landstraßen durchrollen. Wo Du auch seist; ich finde Dich, Einzige! Ist denn ohne Dich ein Glück zu denken? Wo Du bist, will ich sein, was Dir geschieht, soll mir geschehen. Wir zweie sind eins im Leben und Sterben, und wie ich Dir hier bei diesem reinen Wasser schwöre, so möge Gott mich verlassen, wenn ich Dich je verlasse, Marysch, meine einzige!«
Während sie diese Worte zu hören glaubte, sah sie jenen Brunnen, den Vollmond über dem Walde und Jaschku leibhaftig vor sich. Das gewährte ihr einigen Trost. Jaschku war ein resoluter Bursche! er wird halten, was er versprochen. O wäre er jetzt hier, es wäre viel fröhlicher, zusammen mit ihm dem Brausen des Meeres zu lauschen. Was mochte er jetzt in Liziniez machen? Gewiß lag dort schon hoher Schnee! Ob er wohl mit der Axt in den Wald zu den Holzfällern geht, oder ob er die herrschaftlichen Pferde besorgt? Wo mochte er sein, der Herzgeliebte? Dem Mädchen stand plötzlich das ganze Dorf vor Augen, so wie es jetzt aussehen mußte. Der Schnee knarrt unter den Füßen der Menschen aus der Dorfstraße, das Abendrot leuchtet durch die blätterlosen, vom Rauhreif bedeckten Baumäste, ein Flug Krähen zieht krächzend vom Walde her dem Dorfe zu, Rauchwölkchen steigen aus den Schornsteinen der strohgedeckten Hütten, der Brunnenschwengel ruht angefroren am Geländer des Brunnens und in der Ferne schimmert der mit Schnee überstreute Wald, von der Abendröte warm angehaucht, rosig herüber.
Ach und wo war sie jetzt! Wohin hatte ihres Vaters Wille sie geführt! Ueberall, wohin das Auge auch suchend schweift, nichts als Wasser grünlich durchfurcht, mit Schaumkämmen, und in dieser unermeßlichen nassen Wüste nichts, als das Schiff, auf dem sie waren, eine verirrte Möve, darüber das Himmelsgewölbe, ringsum das unaufhörliche Tosen und Brausen der Wasser, bald pfeifend, gurgelnd, bald kläglich wie das Weinen eines Kindes und vor sich die unbekannte grausige Ferne.
Armer Jaschu, wie wirst du sie finden, wohin ihr folgen? Wirst du deiner Maryscha wie die Ente nachschwimmen, oder wie die Kraniche fliegen, oder wie der Reif rollen? Denkst du wohl ihrer in Lipiniez jetzt auch?
Allmählich war die Sonne unter die Fluten des Meeres getaucht. Ein breiter Lichtstrom, der letzte Schein der Scheidenden, lag auf den Wellen, und als nun das Schiff in diesem schillernden, leuchtenden Glutstrom seinen Weg fortsetzte, sah es aus, als jage es der sinkenden Sonne nach. Die dem Schornstein entsteigende Rauchwolke war rot, die Leinen, die Taue, die feuchten Segel in rosiges Licht getaucht, die Matrosen sangen, während der Lichtkreis immer kleiner wurde, bis er endlich nur noch einen lichten Streifen bildete, da, wo die Sonne untergegangen. Man konnte kaum noch unterscheiden, wo das Meer sich von der Luft abgrenzte; es verschwamm alles in diesem Lichtstreifen. Das Meer murmelte leise, als spreche es sein Abendgebet.
In solchen Augenblicken fühlt der Mensch sich gehoben. Die Seele bekommt Flügel