Gustav Weil

Die phantastische Welt der Literatur: 90+ Romane, Märchen & Zauberhafte Geschichten


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blieben die Frauen geduldig um die Mutter und leisteten ihr Gesellschaft, mußten sich aber immer mehr über das Kind wundern, das schon im Alter von zwölf Monden so groß und stark war, als wäre es mehr als zwei Jahre alt. Als es aber achtzehn Monate alt war, sagten sie zur Mutter: »Frau, wir wünschten nun wohl von hier weg und zu unsern Freunden und Verwandten zurückzugehen, die uns so lange nicht gesehen haben; uns dünkt, wir hätten nun schon lange genug bei Euch zugebracht.« Die arme Frau fing bitterlich an zu weinen: »O«, sagte sie, »wenn Ihr von mir weggeht, wird man mich hinrichten!« Sie bat die Frauen unter vielen Tränen und Wehklagen, sie doch jetzt noch nicht zu verlassen, und die Frauen traten weinend und die Arme bedauernd in ein Fenster. »Ach mein Sohn«, sagte die Mutter, indem sie ihr Kind auf dem Schoß betrachtete, »ach mein Sohn, um Dich muß ich sterben, und habe doch nicht den Tod verdient; niemand als ich weiß die Wahrheit, aber niemand will mir glauben!« Und als sie so über das Kind weinte und wehklagte, und unsern Heiland anrief, daß er sie stärken möchte, sah das Kind auf einmal sie lächelnd an und sprach zu ihr: »Fürchte Dich nicht, Mutter, Du sollst um meinetwillen nicht sterben.« Die Mutter erschrak so heftig, als sie ihn reden hörte, daß sie ohnmächtig zurücksank und das Kind fallen ließ, das heftig schrie, als es zur Erde fiel.

      Die beiden Frauen liefen eilends herzu, und meinten, sie wolle aus Verzweiflung ihr Kind töten. »Warum schreit das Kind?« fragten sie. »Hast Du es töten wollen? Warum liegt es an der Erde?« – »Ich dachte nicht daran, ihm ein Leid zu tun«, sagte die Mutter, als sie aus ihrer Ohnmacht wieder erwachte, »aber ich habe ihn fallen lassen, denn Herz und Arme entsanken mir vor Schrecken über das, was er zu mir gesprochen.« – »Und was«, fragten jene, »hat er Euch gesagt, darüber Ihr so erschrocken seid?« – »Daß ich um seinetwillen nicht sterben würde!« – »Hat er dies wirklich gesagt, so wird er wohl noch mehreres sprechen«, erwiderten die Frauen; nahmen ihn auf den Arm, küßten und herzten ihn und sprachen freundlich zu ihm, um zu sehen, ob er ihnen etwas antworten würde. Aber er blieb ganz still und redete nicht ein Wort. Darauf nahm die Mutter, die nur wünschte, daß er in Gegenwart der Frauen reden möchte, ihn auf den Arm und sagte. »Droht mir einmal, sagt, ich würde um seinetwillen verbrannt werden.« – »Ihr seid doch sehr bejammernswert«, sagten sie, »daß Ihr um des Kindes willen müßt verbrannt werden, wäret Ihr doch lieber niemals geboren!« – »Ihr lügt«, sagte das Kind hierauf; »die Mutter befahl Euch so zu sprechen.« Die Frauen erschraken heftig, als sie ihn so reden hörten; »dies ist nicht ein gewöhnliches Kind«, sagten sie, »es ist ein böser Geist, er weiß alles, was wir gesprochen haben.« Darauf fragten sie ihn vielerlei und machten viel Worte. »Laßt mich in Ruhe«, sagte das Kind. »Ihr seid törichte Weiber und größere Sünderinnen als meine Mutter.« – »Dies Wunder darf nicht verborgen bleiben«, sagten die Frauen, »die Richter müssen es erfahren und die ganze Welt«; sie gingen darauf an das Fenster, riefen die Leute unten am Turm zusammen und erzählten ihnen alles, was das Kind gesprochen hatte. Die Leute liefen zu den Richtern und verkündigten ihnen das Wunder und die seltsamen Dinge, die das Kind geredet, da es doch überhaupt noch nicht in dem Alter war, wo gewöhnlich die Kinder zu reden anfangen. »Es ist Zeit«, sagten die Richter, »daß wir diese Frau hinrichten lassen«; sie ließen allgemein bekannt machen, daß nach vierzig Tagen über diese Frau Gericht gehalten würde.

      Als sie dies erfuhr, fürchtete sie sich sehr und ließ es sogleich dem frommen Manne wissen, daß der Tag ihrer Hinrichtung schon festgesetzt sei. Als nun unter Klagen und Leiden der neununddreißigste Tag anbrach, da weinte die unglückliche Frau sehr und war im Herzen betrübt; das Kind aber sah seine Mutter an, war fröhlich und lachte. »Kind, Kind«, sagten die Frauen, »Du denkst wenig an die Leiden Deiner armen Mutter, die morgen um Deinetwillen verbrannt werden soll; verflucht sei die Stunde, in welcher Du geboren wurdest, denn Du bist schuld und die Ursache ihrer Leiden.«

      Da lief das Kind zu seiner Mutter hin und sprach: »Höre mich, teure Mutter; ich verspreche Dir, so lange ich lebe, soll kein Mensch so kühn sein dürfen noch irgend ein Gericht so mächtig, daß sie Dich zum Tode verurteilen lassen; in Gottes Hand allein steht Dein Leben.« Die Mutter und die beiden Weiber freuten sich dieser Worte und hatten große Hoffnung zu der Weisheit des Kindes, das schon jetzt seine Mutter tröstete.

      V. Wie das Kind Merlin die Hinrichtung seiner Mutter verhinderte

       Inhaltsverzeichnis

      Als nun der Tag anbrach, an dem sie hingerichtet werden sollte, begaben die Richter sich an den Turm und ließen die Mutter mit den beiden Frauen zu sich herabkommen. Die Mutter trug das Kind auf ihrem Arm. In diesem Augenblick eilte der fromme Einsiedler herzu. Als die Richter ihn gewahr wurden, sagten sie der Jungfrau, sie solle sich zum Tod vorbereiten, denn sie müsse sterben. »Erlaubt«, sagte sie, »daß ich mit diesem frommen Mann in Geheim spreche.« Die Richter erlaubten es ihr, und sie ging mit ihm in ein besonderes Zimmer, das Kind aber ließ sie draußen bei den Richtern. Sie versuchten allerlei, um es zum Sprechen zu bewegen; aber es kümmerte sich nicht um sie und sprach kein Wort.

      Als nun die Mutter dem frommen Einsiedler gebeichtet und unter heißen Tränen mit ihm gebetet hatte, ging er wieder hinaus zu den Richtern; sie aber zog ihre Kleider aus und hüllte sich bloß in einen Mantel, weil sie glaubte, zum Tode geführt zu werden. Darauf ging sie wieder hinaus; als sie die Tür öffnete, lief das Kind auf sie zu, sie nahm es auf den Arm und trat zu den Richtern. »Gute Frau«, sagten die Richter, »jetzt gesteht, wer Vater Eures Kindes ist, und gedenkt nicht länger zu leugnen oder uns etwas verbergen zu wollen.« Darauf antwortete sie: »Gestrenge Herren, ich weiß sehr wohl, daß ich schon jetzt zur Todesstrafe verurteilt bin, und so möge Gott sich meiner nicht erbarmen, noch mir Gnade erzeigen, wenn es nicht die Wahrheit ist, daß ich niemals einem Mann beigewohnt habe noch in irgend einer Gemeinschaft mit irgend einem gelebt habe.« – »Ihr seid zum Tode verdammt«, riefen hierauf die Richter, »denn nach dem Zeugnis aller anderen Frauen ist das unmöglich, und es ist weder Sinn noch Wahrheit in Eurer Aussage.«

      Da sprang das Kind Merlin seiner erschrockenen Mutter vom Arm und sagte: »Fürchte Dich nicht, Mutter, Du sollst nicht sterben, so lange ich lebe.« Dann wandte er sich zum obersten Richter. »Du hast sie verurteilt, lebendig verbrannt zu werden, aber davor werde ich sie behüten, denn sie hat solches nicht verdient.

      Geschähe allen den Männern und Frauen hier, die heimlich sündigten und mit andern als mit ihren Ehemännern und ihren Ehefrauen lebten, Recht, so würden sie von beiden Teilen verbrannt werden müssen. Ich weiß ihre heimlichen Taten so gut als sie sie selber wissen; wollte ich sie nennen, so müßten sie sich in Eurer Gegenwart all dessen schuldig bekennen, wessen Ihr meine Mutter beschuldigt, die in Wahrheit niemals schuldig war. Dieser fromme Mann hier ist auch so davon überzeugt, daß er vor Gott ihre Schuld auf sich lud.«

      »Ja«, sagte der Einsiedler, »es ist wahr, sie hat mir gebeichtet, und ich habe sie ihrer Sünde ledig gesprochen. Sie selber hat Euch gestanden, wie sie im Schlafe und ohne Schuld betrogen worden. Da vorher noch nie ein solches Wunder ist gehört worden, so wird auch mir solches zu glauben sehr schwer.«

      »Ihr habt«, sagte das Kind zum Einsiedler, »die Stunde und den Tag aufgeschrieben, an welchem sie zu Euch kam, und Euch ihren Fall beichtete, jetzt dürft Ihr nur nachsehen, ob es mit dem, was sie jetzt spricht, übereintrifft.« – »Du sprichst die Wahrheit«, antwortete der Einsiedler, »Du weißt auch wahrlich mehr als wir andern alle.« Hierauf sagten die beiden Frauen, die mit ihr im Turm gesessen hatten, die Stunde und den Tag aus, als sie, wie vorgegeben, betrogen worden sei, und diese stimmte genau mit der zusammen, die der Einsiedler aufgeschrieben hatte. »Dies alles spricht sie nicht los«, sagte der Richter; »sie muß den Vater des Kindes nennen, damit wir ihn bestrafen können.«

      Da rief das Kind Merlin ganz erzürnt und heftig: »Herr, ich kenne meinen Vater besser als Ihr den Eurigen; Ihr wißt nicht, wer Euer Vater ist, aber Eure Mutter weiß genauer, wer Euch gezeugt hat, als meine Mutter weiß, wer mich erzeugte.« Da rief der Richter ergrimmt: »Weißt Du etwas über meine Mutter zu sagen, so sprich!« – »Ja«, antwortete das Kind, »wenn Ihr über Eure Mutter ebenso Gericht halten wollt, denn sie hat viel eher den Tod verdient als meine Mutter! Wenn ich Euch etwas über Eure Mutter sagen werde, das sie