Rainer Maria Rilke

Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge


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       Rainer Maria Rilke

      Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge

      Briefe an einen jungen Dichter + Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge + Requiem…

      Books

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       [email protected]

      2017 OK Publishing

      ISBN 978-80-272-1110-4

      Inhaltsverzeichnis

       Roman:

       Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

       Lyrische Prosa:

       Die Erzählungen

       Erzählungen aus dem Nachlaß

       Erzählungen und Skizzen

       Briefe an einen jungen Dichter

       Kunstwerke:

       August Rodin

       Offener Brief an Maximilian Harden

       Von Kunst-Dingen: Kritische Schriften – Dichterische Bekenntnisse

       Worpswede: Monographie einer Landschaft und ihrer Maler

       Gedichte:

       Mir zur Feier

       Engellieder

       Mädchen-Gestalten

       Lieder der Mädchen

       Gebete der Mädchen zu Maria

       Das Marien-Leben

       Das Stunden-Buch

       Duineser Elegien

       Requiem: Für eine Freundin (Für Paula Modersohn Becker)

       Requiem: Für Wolf Graf von Kalckreuth

       Das Buch der Bilder

       Neue Gedichte

       Der neuen Gedichte anderer Teil (1908)

       Gedichte von 1906 bis 1910

       Gedichte von 1910 bis 1922

       Die Sonette an Orpheus

       Sieben Gedichte

       Erste Gedichte

       Gedichte in französischer Sprache

       Dramen:

       Ohne Gegenwart

       Die weisse Fürstin

       Inhaltsverzeichnis

       11. September, Rue Toullier.

       Aus dem Nachlaß zu den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

      11. September, Rue Toullier.

       Inhaltsverzeichnis

      So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, Rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-ge-grâce, Hôpital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von Pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.

      Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, Pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.

      Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.

      Das sind die Geräusche. Aber es gibt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.

      Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.

      Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe