das kann ich an deinen Backen sehen, Klärchen«, sagte jetzt die Großmama lachend. »Nein, dich kennt man nicht mehr; rund, breit bist du ja geworden, wie ich nie geahnt, daß du je werden könntest, und groß bist du, Klärchen! Nein, ist es denn auch wahr? Ich kann dich ja nicht genug ansehen! Aber nun muß auf der Stelle telegrafiert werden an meinen Sohn in Paris, er muß sogleich kommen. Ich sag ihm nicht, warum, das ist die größte Freude seines Lebens. Mein lieber Öhi, wie machen wir das? Sie haben wohl die Männer schon entlassen?«
»Die sind fort«, antwortete er, »aber wenn's der Frau Großmama pressiert, so läßt man den Geißenhüter herunterkommen, der hat Zeit.«
Die Großmama bestand darauf, sofort ihrem Sohne eine Depesche zu schicken, denn dieses Glück sollte ihm keinen Tag vorenthalten bleiben.
Nun ging der Öhi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen so durchdringenden Pfiff durch seine Finger, daß es hoch oben von den Felsen zurückpfiff, so weit weg hatte er das Echo geweckt. Es währte gar nicht lange, so kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff wohl. Der Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Almöhi rufe ihn zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die Großmama unterdessen überschrieben hatte, und der Öhi erklärte ihm, er habe das Papier sofort ins Dörfli hinunterzutragen und auf dem Postamt abzugeben, die Bezahlung werde der Öhi später selbst in Ordnung bringen, denn so viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht übertragen.
Dieser ging nun mit seinem Papier in der Hand, für diesmal wieder erleichtert, davon, denn der Öhi hatte ja nicht zum Gericht gepfiffen, es war kein Polizeidiener angekommen.
Endlich konnte man sich denn fest und ruhig zusammen um den Tisch vor der Hütte herumsetzen, und nun mußte der Großmama erzählt werden, wie von Anfang an alles sich zugetragen hatte. Wie zuerst der Großvater jeden Tag ein wenig das Stehen und dann ein Schrittchen mit Klara probiert hatte, wie dann die Reise auf die Weide gekommen war und der Wind den Rollstuhl fortgejagt hatte. Wie Klara vor Begierde nach den Blumen den ersten Gang machen konnte und so eins aus dem andern gekommen war. Aber es währte lange, bis diese Erzählung von den Kindern zu Ende gebracht wurde, denn zwischendurch mußte die Großmama immer wieder in Verwunderung und in Lob und Dank ausbrechen, und immer wieder rief sie aus: »Aber ist es denn auch möglich! Ist es denn auch wirklich kein Traum? Sind wir denn auch alle wach, und sitzen wir hier vor der Almhütte, und das Mädchen vor mir mit dem runden, frischen Gesicht ist mein altes, bleiches, kraftloses Klärchen?«
Und Klara und Heidi hatten immer neue Freude, daß ihre schön ausgedachte Überraschung so gut gelungen war bei der Großmama und immer noch fortwirkte.
Herr Sesemann hatte unterdessen seine Geschäfte in Paris beendet, und auch er hatte vor, eine Überraschung zu bereiten. Ohne ein Wort an seine Mutter zu schreiben, setzte er sich an einem der sonnigen Sommermorgen auf die Eisenbahn und fuhr in einem Zuge bis nach Basel, von wo er in aller Frühe des folgenden Tages gleich wieder aufbrach, denn es hatte ihn ein großes Verlangen ergriffen, einmal wieder sein Töchterchen zu sehen, von dem er nun den ganzen Sommer durch getrennt gewesen war. Im Bade Ragaz kam er einige Stunden nach der Abfahrt seiner Mutter an.
Die Nachricht, daß sie eben heute die Reise nach der Alp unternommen habe, kam ihm gerade recht. Sofort setzte er sich in einen Wagen und fuhr nach Maienfeld hinüber. Als er da hörte, daß er auch noch bis zum Dörfli hinauffahren könne, tat er dies, denn er dachte, die Fußpartie den Berg hinauf werde ihm immer noch lang genug werden.
Herr Sesemann hatte sich nicht getäuscht; die unausgesetzte Steigung die Alp hinan kam ihm sehr lang und beschwerlich vor. Noch immer war keine Hütte in Sicht, und er wußte doch, daß auf halbem Wege er auf die Wohnung des Geißenpeter stoßen sollte, denn oftmals hatte er die Beschreibung dieses Weges vernommen.
Es waren überall Spuren von Fußgängern zu sehen, manchmal gingen die schmalen Wege nach allen Richtungen hin. Herr Sesemann wurde unsicher, ob er auch auf dem richtigen Pfade sei oder ob vielleicht die Hütte auf einer andern Seite der Alp liege. Er sah sich um, ob kein menschliches Wesen zu entdecken sei, das er um den Weg befragen könnte. Aber es war still ringsum, weit und breit war nichts zu sehen noch zu hören. Nur der Bergwind sauste dann und wann durch die Luft, und im sonnigen Blau summten die kleinen Mücken, und ein lustiges Vögelein pfiff da und dort auf einem einsamen Lärchenbäumchen. Herr Sesemann stand eine Weile still und ließ sich die heiße Stirne vom Alpenwinde kühlen.
Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen; es war der Peter mit seiner Depesche in der Hand. Er lief gradaus, steil herunter, nicht auf dem Fußwege, auf dem Herr Sesemann stand. Sobald der Läufer aber nahe genug war, winkte ihm Herr Sesemann, daß er herüberkommen sollte. Zögernd und scheu kam der Peter heran, seitwärts, nicht gradaus, und so, als könne er nur mit dem einen Fuß richtig vorankommen und müsse den andern nachschleppen.
»Na, Junge, frisch heran!« ermunterte Herr Sesemann.
»Jetzt sag mir mal, komme ich auf diesem Wege zu der Hütte hinauf, wo der alte Mann mit dem Kinde Heidi wohnt, bei dem die Leute aus Frankfurt sind?«
Ein dumpfer Ton furchtbarsten Schreckens war die Antwort, und so maßlos schoß der Peter davon, daß er kopfüber und über die steile Halde hinabstürzte und fortrollte in unwillkürlichen Purzelbäumen, immer weiter und weiter, ganz ähnlich, wie der Rollstuhl getan hatte, nur daß glücklicherweise der Peter nicht in Stücke ging, wie es bei dem Sessel der Fall gewesen war.
Nur die Depesche wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon.
»Merkwürdig schüchterner Bergbewohner«, sagte Herr Sesemann vor sich hin, denn er dachte nicht anders, als daß die Erscheinung eines Fremden diesen starken Eindruck auf den einfachen Alpensohn hervorgebracht habe.
Nachdem er Peters gewalttätige Talfahrt noch ein wenig betrachtet hatte, setzte Herr Sesemann seinen Weg weiter fort.
Der Peter konnte trotz aller Anstrengung keinen festen Standpunkt gewinnen, er rollte immerzu, und von Zeit zu Zeit überschlug er sich noch in besonderer Weise.
Aber das war nicht die schrecklichste Seite seines Schicksals in diesem Augenblick, viel erschrecklicher waren die Angst und das Entsetzen, die ihn erfüllten, nun er wußte, daß der Polizeidiener aus Frankfurt wirklich angekommen war. Denn er konnte nicht daran zweifeln, daß der Fremde es sei, der den Frankfurtern beim Almöhi nachgefragt hatte. Jetzt, am letzten hohen Abhange oberhalb des Dörfli, warf es den Peter an einen Busch hin, da konnte er sich endlich festklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er mußte sich erst wieder ein wenig besinnen, was mit ihm sei.
»Gut so, wieder einer!« sagte eine Stimme hart neben dem Peter. »Und wer kriegt morgen den Puff da droben, daß er herunterkommt wie ein schlechtvernähter Kartoffelsack?«
Es war der Bäcker, der so spottete. Da er da droben aus seinem heißen Tagewerk weg sich ein wenig erluften wollte, hatte er ruhig zugesehen, wie eben der Peter, dem Heranrollen des Stuhles nicht unähnlich, von oben heruntergekommen war.
Der Peter schnellte auf seine Füße. Er hatte einen neuen Schrecken. Jetzt wußte der Bäcker auch schon, daß der Stuhl einen Puff bekommen hatte. Ohne ein einziges Mal zurückzusehen, lief der Peter wieder den Berg hinauf. Am liebsten wäre er jetzt heimgegangen und in sein Bett gekrochen, daß ihn keiner mehr finden konnte, denn da fühlte er sich am sichersten. Aber er hatte ja die Geißen noch oben, und der Öhi hatte ihm noch eingeschärft, bald wiederzukommen, damit die Herde nicht zu lange allein sei. Den Öhi aber fürchtete er vor allen und hatte einen solchen Respekt vor ihm, daß er niemals gewagt hätte, ihm ungehorsam zu sein. Der Peter ächzte laut und hinkte weiter, es mußte ja sein, er mußte wieder hinauf. Aber rennen konnte er jetzt nicht mehr, die Angst und die mannigfaltigen Stöße, die er soeben erduldet hatte, konnten nicht ohne Wirkung bleiben. So ging es denn mit Hinken und Stöhnen weiter die Alm hinauf.
Herr Sesemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erste Hütte erreicht und wußte nun, daß er auf dem richtigen Wege war. Er stieg mit erneutem Mute weiter, und endlich, nach langer, mühevoller Wanderung, sah er sein Ziel vor sich. Dort oben stand die Almhütte,