konnte sich ein Eisfeld unter starkem Druck über den Rand der Insel schieben und den Gipfel des Dammes kappen. Aber das kümmerte Kotuko und das Mädchen nicht. Sie bauten ein Schneehaus und begannen zu essen, indes sie draußen über den kleinen Strand das Eis hämmern und toben hörten. Das seltsame Wesen war verschwunden; bei der Lampe kauernd, redete Kotuko lebhaft erregt von seiner großen Macht über die Geister. Unaufhaltsam floß der Strom seiner wilden Rede – da aber hub das Mädchen zu lachen an und begann sich in den Hüften zu wiegen.
Hinter ihr, Schritt für Schritt sich vorschiebend, erschienen zwei Köpfe in der engen Öffnung des Schneehauses, ein gelber und ein schwarzer, die zu zwei überaus verschämten und betrübten Hunden gehörten, offenbar mit einem sehr schlechten Gewissen: Kotuko, der Hund, und der schwarze Führer. Beide, fett geworden, in gutem Futterzustand und von dem Irrsinn geheilt, standen sie da, in der seltsamsten Art und Weise aneinandergekoppelt. Der schwarze Führer war, wie man sich erinnern wird, mit dem Geschirr auf dem Rücken davongeflüchtet. Bald darauf muß er auf Kotuko, den Hund, gestoßen sein, hatte mit ihm gespielt oder vielleicht auch gekämpft, denn seine Schulterlasche war in Kotukos kupferdrahtenem Halsband festgehakt, so daß keiner den Riemen durchbeißen konnte, der ihn mit dem Halse des Nachbarn verband. Dieser Zustand und dazu die Freiheit, nach Belieben zu jagen, hatte wohl ihre Tollheit geheilt. Jetzt waren beide sehr ernst und vernünftig.
Das Mädchen schob die zwei verschämten Geschöpfe zu Kotuko hin und rief unter Tränen lachend: »Das ist Quiquern; Quiquern, der uns auf feste Erde rettete. Sieh, er hat acht Beine und einen doppelten Kopf!«
Kotuko durchschnitt die Fesseln; beide Hunde, gelb und schwarz, stürzten sich in seine weitgeöffneten Arme, jaulten, maunzten und winselten, um zu erzählen, wie sie wieder zu Verstand gekommen. Kotuko befühlte ihnen die Rippen und fand, daß sie rund und gut gepolstert waren. »Sie haben Futter gefunden«, sagte er grinsend. »Ich glaube nicht, daß wir so rasch zu Sedna gehen werden. Meine Tornaq hat sie uns gesendet. Der Wahnsinn ist von ihnen gewichen.«
Nachdem Kotuko sie begrüßt hatte, fuhren sich die beiden, die zwei Wochen lang miteinander fressen, jagen und schlafen mußten, an die Kehlen, und in dem Schneehaus entwickelte sich die prächtigste Balgerei. »Hungrige Hunde kämpfen nicht«, sagte Kotuko. »Sie haben die Robben gefunden. Laß uns schlafen. Auch uns wird es nicht an Nahrung fehlen.«
Als sie erwachten, war am Nordstrand der Insel offenes Wasser, und all das gelockerte Eis war von den Fluten landwärts getrieben. Das erste Aufrauschen der Brandung ist der herrlichste Klang, den der Innuit kennt, denn er verkündet den nahenden Frühling. Kotuko und das Mädchen hielten sich bei der Hand und lächelten versonnen; bei dem vollen Rauschen und Brausen der Brandung dachten sie an die Lachs-und Renzeiten und den Duft blühender Zwergweiden. Aber so scharf biß noch die Kälte, daß die See zwischen den Schollen zu frieren begann; doch am Horizont zeigte sich ein breites rotes Glühen, und das war das Licht der gesunkenen Sonne. Mehr einem Gähnen des schlummernden Sonnengottes schien der rosige Schimmer zu gleichen, und auch nur wenige Minuten blieb das Leuchten am Himmel sichtbar. Aber das war die Jahreswende! Sie wußten es, und nichts mehr war daran zu ändern.
Vor der Hütte fand Kotuko die Hunde im Kampf um einen frisch gerissenen Seehund, der den vom Sturm angetriebenen Fischen gefolgt war. Er war der erste von einer Herde von zwanzig oder dreißig Seehunden; und solange die See noch offen war, spielten Hunderte eifriger, schwarzglänzender Köpfe in dem freien seichten Gewässer, schwammen und tauchten zwischen den treibenden Eisschollen.
Eine gute Sache war es, wieder Seehundleber zu essen, die Lampe üppig mit Tran zu füllen und zu sehen, wie die Flamme drei Fuß hoch in die Luft schlug. Aber sobald das Neueis fest genug war, beluden Kotuko und das Mädchen den Schlitten und ließen die Hunde ziehen, wie sie noch nie gezogen hatten, denn sie besorgten, daß dem Dorf ein Unglück zugestoßen sein könnte. Das Wetter war so unbarmherzig wie immer; aber leichter ist es, einen gut mit Vorrat beladenen Schlitten zu lenken, als verschmachtend des Weges zu ziehen. Sie ließen fünfundzwanzig Robbenleiber gebrauchsfertig zurück, vergraben im Eise des Strandes. Dann brachen sie eilig auf, um schnell zur hungernden Sippe zu gelangen. Die Hunde wiesen ihnen den Weg, sobald Kotuko ihnen erklärt hatte, was man von ihnen erwartete. Kein Grenzstein weit und breit bezeichnete die Richtung, aber schon nach zwei Tagen bellten die Hunde in Kadlus Dorf. Nur drei Hunde antworteten ihnen, die anderen hatte man verzehrt, und fast völlig finster lagen die Hütten. Kotuko aber rief: »Ojo!« (gekochtes Fleisch); da antworteten schwache Stimmen; und als er mit dem Weckruf des Dorfes Namen nach Namen aufrief, blieb keine Lücke.
Eine Stunde danach brannten die Lampen hell in Kadlus Haus, Schneewasser wurde heiß gemacht, in den Töpfen begann es zu brodeln, und der Schnee tropfte vom Dach, als Amoraq das Mahl für das ganze Dorf bereitete. Das Knäblein in der Felljacke lutschte an einem Streifen nußsüßen fetten Transpecks, und die Jäger füllten sich langsam und sorgsam bis zum Rand mit Robbenfleisch. Kotuko und das Mädchen erzählten ihre Geschichte. Zwischen ihnen saßen die beiden Hunde, und jedesmal, wenn ihre Namen genannt wurden, spitzten sie jäh ein Ohr und sahen höchst beschämt drein. Ein Hund, der einmal toll und wieder gesund geworden, ist, wie der Innuit sagt, vor weiteren Anfällen sicher.
»Also hat uns die Tornaq nicht vergessen«, endete Kotuko seine Erzählung. »Der Sturm blies, das Eis brach, und der Seehund schwamm hinter den Fischen drein, die vor dem Sturme her trieben. Die neuen Seehundlöcher sind nicht zwei Tagesreisen von hier entfernt. Morgen sollen die guten Jäger ausziehen und die Robben holen, die ich spießte – fünfundzwanzig Leiber im Eis vergraben. Wenn wir diese aufgezehrt haben, dann wollen wir alle dem Seehund nachstellen an der Kante des Eises.«
»Was wirst du tun?« wandte sich der Zauberer an Kadlu in dem Ton, in dem er immer den reichsten der Tununirmiuten anredete.
Kadlu blickte auf das Mädchen aus dem Norden und sagte ruhig: »Wir bauen ein Haus.« Dabei wies er auf die Nordwestseite seines Hauses, denn das ist die Seite, wo der verheiratete Sohn oder die verheiratete Tochter wohnt. Das Mädchen schüttelte traurig den dunklen Kopf und kehrte die Innenflächen ihrer Hände nach oben. Eine Fremde war sie, halb verhungert hatte man sie aufgelesen, nichts konnte sie mitbringen in den Haushalt.
Da aber sprang Amoraq auf von der Schlafbank und begann allerlei Gegenstände in den Schoß des Mädchens zu werfen – Steinlampen, eiserne Hautkratzer, Blechkessel, Rehhäute, mit Moschusochsenzähnen verziert, und echte Segeltuchnadeln, wie die Seeleute sie gebrauchen. Das war die reichste Aussteuer, die man jemals an der fernen Grenze des Polarkreises mit in die Ehe gebracht hatte; und das Mädchen aus dem Norden senkte den Kopf bis zur Erde.
»Diese auch«, rief Kotuka lachend und deutete auf die beiden Hunde, die ihre kalten Schnauzen an des Mädchens Gesicht legten.
»Ahem«, machte der Angekok mit bedeutsamem Hüsteln, als ob er allein das alles bedacht hätte. »Sobald Kotuko das Dorf verlassen hatte, ging ich in das Singhaus und sang dort Zauberlieder. Die langen einsamen Nächte hindurch sang ich und beschwor den Geist des Rens. Mein Gesang aber erregte den Sturm, der das Eis aufbrach, und zog die zwei Hunde in Kotukos Nähe, sonst hätte das Eis seine Knochen zermalmt. Weiter sang ich, bis die Seehunde, vom Gesang gelockt, herzogen hinter dem geborstenen Eis. Still lag mein Leib im Quaggi, doch mein Geist schweifte umher auf dem Eise, führte Kotuko und leitete die Hunde. Ich tat alles.«
Jeder hatte sich vollgegessen und war schläfrig, so widersprach ihm keiner. Kraft seines Amtes verhalf sich der Angekok noch zu einem fetten Stück gekochten Fleisches, sank dann zurück und schlief mit den anderen in der warmen, wohlerleuchteten, trandurchdufteten Stube.
Kotuko war ein Meister der Zeichenkunst nach Innuitart, und er ritzte Bilder der überstandenen Abenteuer in ein flaches Stück Narwalhorn, mit einem Loch am Ende. Als er dann mit dem Mädchen nordwärts wanderte, in dem Jahre des wunderbaren offenen Winters, ließ er die Bildergeschichte bei Kadlu zurück; dieser aber verlor sie im Steingeröll am Strande des Netillingsees zu Nikosiring, als sein Hundeschlitten zusammenbrach. Ein Seeinnuit fand das Stück Narwalhorn im nächsten Frühjahr und verkaufte es einem Manne zu Imigen, der Dolmetscher war an Bord eines Walfischfängers in Cumberland-Sund. Dieser wieder überließ es Hans Olsen, der später Quartiermeister wurde auf einem großen Dampfer, mit dem die Touristen zum Nordkap in Norwegen fuhren. Nach