Volker Elis Pilgrim

Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland


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sie sich erst gar nicht näher mit Hitlers angeblich prozedierter interpersonell aktiver vaginal-phallischer Heterosexualität beschäftigt. Auch Anna Maria Sigmund muss ähnlich einem Hitler-Gesamt-Biografen respektiert werden, da sie mit fünf Arbeiten in mehreren Teilen und Neuauflagen Hitler-biografische Längen von 2000 Seiten erreicht hat und nicht nur Frauen-Themen behandelt, sondern auch viele andere Hitler-Einzelheiten. (Sigmund 03, 06, 08 I u. II)

      Jedoch: Die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts kann keine Rücksicht darauf nehmen, dass Historiker und Historikerinnen sich generell für sexualwissenschaftliche Fragen kaum oder nicht interessieren und bei Sexualität überhaupt von einem sensiblen Thema reden. In der Sexualwissenschaft ist Sexualität kein »sensibles«, sondern ein robustes, sogar öffentlich zu machendes, der ständigen Betrachtung ausgesetztes Thema, das wie alle anderen Themen in jegliche Diskussion über die Konditionen des Menschen hineingetragen werden kann.

      In ihrer un-sensiblen chirurgischen Vorgehensweise ist die Sexualwissenschaft bisher von den Medien bloß gehindert worden – wegen der überall noch lauernden Tabus und der Abwehr gegen das sezierende Auf-den-Operations-Tisch-Legen von sexuellen Vorkommnissen. Die Sexualwissenschaft verhält sich gegenüber sexuellen Fragen genauso ungerührt wie die Anatomen gegenüber den vor ihnen liegenden Leichen. Hitlers Sexualität ist quasi eine Leiche, die wie die in der Pathologie vorliegenden seziert werden muss. Bei der Sezierung von Hitlers Sexualität besteht noch ein anderes Dilemma, dass nämlich die Sexualwissenschaft bisher nur marginal historisch interessiert war. Es gibt zu wenig Werke über die Sexualität politischer Figuren in der Geschichte. Deshalb ist das Buch von Lothar Machtan über Hitlers Homosexualität ein Anfang, ja ein wesentlicher Durchbruch, die Diskrepanz zwischen Sexual- und Geschichtswissenschaft zu überwinden, ganz gleich, ob Machtan in jeder Einzelheit gefolgt werden kann.

      Peinlich ist, dass die deutsche Gesellschaft von allen Seiten her gegenüber Machtans Versuch, Licht in Hitlers »undurchsichtige Erotik« (Heiden) zu tragen, aufgeschrien hat, worüber Machtan 2003 in der Neuausgabe seines Buches von 2001 berichtet. (Machtan 03, S. 449 ff.) Bezeichnenderweise erwähnt auch die sensible Historikerin Anna Maria Sigmund Machtan nicht, obwohl sie das bei ihrer Beantwortung von Hitlers sexueller Frage spätestens in ihrem Buch von 2008 über Nazi-Sexualität hätte tun müssen.

      Sigmund macht sich auch immer wieder des Hitler-biografischen Frevels der Aussparung von Hitler-Bild-Zerstörerischem schuldig, was ihr bei relevanten Einzelheiten noch vorgeworfen werden wird. Als weltweit bekannt gewordene Hitler-Freundinnen-Biografin wollte sie nichts mit Hitlers homosexuellem Schatten zu tun haben und kniff vor dem Thema. (Sigmund 98–13) Doch es gibt nicht nur den heterosexuellen Hitler, sondern auch den homosexuellen und – wie sich herausgestellt hat – den onanistischen. Gerade das macht die Beantwortung der sexuellen Frage spekulativ, wenn nur auf dem heterosexuellen Bein Hitlers Hurra geschrien wird.

      Nicht nur gegenüber der Homosexualisierung eines Adolf Hitlers schreit die Gesellschaft auf, sondern auch gegenüber der nüchternen Libido-Entfaltung einer Kulturfigur wie Franz Schubert, dessen Homosexualität Lupen-rein zwei Schubert-Biografen durchleuchtet haben – 1989 Maynard Solomon und 1997 Christoph Schwandt. (Solomon, Schwandt)

      Schwandts Werk erfuhr zu Schuberts 200. Geburtstag 1997 »nicht mehr feierliche« Blockierungen durch die Musik-Szene, musste in der Sprachzeitschrift text und kritik unterkriechen und bekam keinen Eingang in Buchverlage und Musikzeitschriften.

      Noch 2013 berichtete Moritz Weber über das skandalöse Vorgehen von Herausgebern und Interpreten, die in einigen Werken Schuberts homosexuelle Inhalte dahingehend verfälschten, dass sie diese verheterosexualisierten«. (Weber)

      All das wird sich erst ändern, wenn die Sexual- und Sozialwissenschaftler beiderlei Geschlechts und aller Orientierungen ihre Abstinenz in dieser Hinsicht aufgeben und sich den gesamten Marx’schen Überbau in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Kultur sexual-spezifisch von unten vornehmen: Friedrich II. von Preußen, Bismarck, Wilhelm II., Rathenau, Willy Brandt, der an seinem sexuellen Verhalten gescheitert ist, Kanzler Schröder, der mit dem seinen reüssierte … Und auch über Angela Merkel würde die Gesellschaft gern manches wissen, inwiefern ihr beispielloses Gelingen mit ihrer Sexualität in Zusammenhang steht.

      Händel, Haydn, Beethoven, Brahms, Strauss warten auf ihr Geknacktwerden, Botticelli, El Greco, Murillo, Raffael, Renoir und Rubens tun das ebenso. Das schwule Outing von Albrecht Dürer zu dessen 500. Geburtstag 1971 hat immer noch keine Nachfolger gefunden. (Pilgrim 71)

      Bei Adolf Hitler darf es überhaupt kein Entweichen vor der Beantwortung der sexuellen Frage geben. Dafür ist das Tagebuch-Fragment der Eva Braun nur einer der Mosaik-Steine im neu zusammenzusetzenden Bild von Hitlers Sex-Tod, seinem von ihm permanent zelebrierten Sexual-Sterben.

      Als Tatsache dazu konnte bisher präsentiert werden:

      Hitler 1 war null Frauen-bezogen. Es gibt nichts, superlativiert ganz und gar nichts, das heißt: Keine Vorläuferin Eva Brauns oder auch nur eine gute Freundin existierte in Ansätzen, wie mit den 23 Zeugen und vor allem mit den Hitler-Jugend-Umfeld-Sammlungen im Bleibtreu-Dossier und anderen Material-Mappen im Hauptarchiv der NSDAP belegt wurde. (Bleibtreu, Bloch, BAB, NS 26/14, 17a, 19–33, 65)

      Ja, belegt! Denn sexualwissenschaftlich lässt sich das un-»sensible Thema« Sexualität durchaus beweisen, wenn auch nur auf ungeahnt komplizierte und ausufernd ausführlich zu bewerkstelligende Art wie Spiegelung, Summe-Bildung, Vakanz-Forschung. Mit der durch das Hauptarchiv der NSDAP unwillentlich unternommenen Hitler-Jugend-Heterosex-Abholzung sieht es von Frauen-Seite her für Hitler viel schlechter aus, als es Volker Ullrich darstellen möchte, der auch Bleibtreus Fülle des heterosexuellen Miss-Lauts nicht hören wollte.

       Sachliche und sexuelle »Wohlanständigkeit« des Serienkillers

      Je undurchsichtiger Hitler bleibt, je normaler er gemacht wird, um so unverständlicher ist auch die Entfaltung seiner Destruktivität. Die Normalisierung Hitlers durch seine Biografen setzt fort, womit er selbst begonnen hat – sich als normal zu stilisieren: Für das ferne Volk messianisch überhöht, aber für den direkten Umkreis einer wie jedermann, auf dass jeder nahe Mann ihm folgen, Hitlers Wünsche und Befehle befolgen und ihn niemals an der Durchsetzung seiner einzelnen Zerstörungs-Aktionen hindern konnte. Hitlers von ihm selbst betriebene Normalisierung galt dem Vorgang, seine personifizierten Zerstörungswerkzeuge als Normalmänner in die Hand zu bekommen und in der Hand zu behalten, auf dass sie immer und überall alle seine Destruktionen ausführten. Er ist ja einer von uns! Er ist einer wie wir! Da macht das Mitmachen als Mordwerkzeug richtig Spaß!

      So lief es vom Hitler-Umkreis aus wellenbewegend weiter in die Bereiche der entfernteren und entferntesten Mittäter hinein, bis ein millionenhaftes Mitmachen von allein funktionierte, das zu Greueln aller Art führte – vom Oben einer Heydrich’schen Wannsee-Konferenz aller für die »Endlösung« zuständigen Behörden (20. Januar 1942) bis zum Unten der Zyklon-B-Einstreuer in die Gaskammern.

      Eine Normalmann-Maskierung unternehmen die meisten Serienkiller. Deswegen sind sie äußerst schwer zu enttarnen. Und deswegen gelingt es ihnen leicht, sich in die Apparaturen der Gesellschaft einzuschleichen. Sie sind keine üblichen Verbrecher, sondern Ehrenmänner mit nur einem sehr versteckten Schaden an ihrem verstecktesten und sie als Mann kennzeichnenden Organ.

      Die überwiegende Mehrzahl der Serienkiller hatte etablierte Berufe oder ging einer geregelten Tätigkeit nach – ausgenommen diejenigen, die schon als Jünglinge zu morden begannen wie Bartsch, Chase, Hagedorn und Hoßfeld oder die so vermögend waren, dass sie wie Gein nicht zu arbeiten brauchten, der sich ungestört von finanziellen Zwängen seiner ihm angenehmsten Tätigkeit widmen konnte, sein ererbtes Elternhaus tagein tagaus mit zerstückelten Frauenleichen auszustaffieren.

      Auf allen beruflichen Ebenen glänzten erwachsene, schon non stop mörderisch praktizierende Serienkiller – als Angestellter im Justizdezernat und städtischer Kirchenpräsident (Rader), als Schulaufsichts-Beamter (Fourniret), als Landwirt und Büchsenfleisch-fabrizierender Millionär (Pickton), als Geschäftsmann