Susanne Picard

Elfenzeit 7: Sinenomen


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Licht vor ihr wurde mit jedem stolpernden Schritt größer, war zuerst nicht mehr als ein Fingernagel, wuchs zu einer Faust heran, dann zu einem Kopf, schließlich zu einem rechteckigen, menschengroßen Umriss. Die Dunkelheit nahm Formen an. Nadja sah Mauern rechts und links vor sich, rote Ziegelsteine und aufgeplatzte, graue Kacheln. Sie war so müde, dass die Farben vor ihren Augen verschwammen.

      Nur einen Moment, dachte sie. Wenn ich doch nur einen Moment ausruhen könnte.

      Ihre Knie waren weich, zitterten bei jedem Schritt. Talamh lag so schwer in ihren Armen, dass sie Angst hatte, ihn fallen zu lassen. Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten, aber die Hände zogen sie weiter, trugen sie förmlich über Steine, Schutt und Geröll.

      Und dann wurde es hell. Von einem Moment zum anderen drang gelbes Licht durch ihre Lider. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie die Augen geschlossen hatte. Blinzelnd öffnete Nadja sie wieder. Helligkeit stach in ihren Kopf. Schemen bewegten sich darin, Stimmen sprachen miteinander, vielleicht auch mit ihr, sie war sich nicht sicher.

      Die Hände drückten sie nieder. Nadja spürte etwas Weiches unter sich. Jemand bat sie, sich hinzulegen. Sie war zu müde, um zu widersprechen. Ihr Kopf berührte ein Kissen. Es war kühl und roch modrig, wie ein alter Lappen. Einen Moment lang ekelte sich Nadja, dann holten Müdigkeit und Gleichgültigkeit sie wieder ein. Sie spürte Talamh in ihren Armen und schmiegte sich an ihn. Er schmatzte leise.

      Alles wird gut, sagte eine Stimme in ihrem Kopf.

      Nadja ließ sich in die Dunkelheit fallen. Das Letzte, was sie sah, bevor ihre Augen sich schlossen, war ein Schild an der gegenüberliegenden Wand. Es bestand aus angerostetem hellen Metall. Ein schwarzer Pfeil war darauf zu sehen, darunter drei ebenfalls schwarze Worte:

      Zum Frauen-Abort

      1.

       Unterwelten

      »Sie wacht auf.«

      »Nadja?«

      »Lass sie doch erst mal in Ruhe, Anne.«

      Eine Hand berührte Nadjas Arm. Sie war kühl und roch nach Sandelholz.

      Nadja öffnete die Augen. Sie lag auf einem Feldbett. Durch Löcher in einem schmutzig-beigen Betttuch konnte sie eine fleckige Matratze erkennen. Metallfedern drückten gegen ihre Rippen. Das Gesicht eines gezeichneten, grünen Froschs lachte sie vom Kissen unter ihre Wange an. Muppet-Show stand über seinem Kopf.

      Beinahe instinktiv tastete Nadja nach Talamh, der eingewickelt in eine Decke neben ihr lag. Seine tiefblauen Elfenaugen waren geöffnet und blinzelten sie an.

      »Wo …«, begann Nadja, doch dann setzte sie sich ruckartig auf. Erinnerungen brachen wie eine Flutwelle durch den Damm, den Erschöpfung und Angst um ihren Geist errichtet hatten. Odins Haus, der Getreue, ihre Eltern, David. Gesichter und Ereignisse flossen an ihr vorbei, drohten sie einen Moment lang zu überwältigen.

      »Der Wolf … Ragnarök!«, stieß sie hervor.

      »Anscheinend nicht«, antwortete eine Stimme hinter ihr. »Obwohl es zum Humor des Universums gepasst hätte, die Welt zu vernichten, bevor mein Roman erscheint.«

      Nadja drehte sich um. Robert lehnte an einer Wand des kleinen, fensterlosen Raums und drehte eine Stoffpuppe zwischen den Fingern. Das Licht einer Glühbirne, die von der Decke hing, warf lange Schatten über sein Gesicht.

      »Robert!« Nadja sprang auf und umarmte ihn. Er schloss sie in die Arme, so fest, dass es beinahe schmerzte.

      »Wir leben«, sagte er leise, »du, Anne, Talamh, ich … nun ja, mehr oder weniger. Wenn das Cairdeas sich nicht irrt, auch Rian.«

      Erschrocken löste Nadja die Umarmung und tastete nach ihrem eigenen Cairdeas. Es war warm und weich. Sie spürte das Leben in ihm, und das bedeutete, dass David noch lebte.

      »Und David«, sagte sie. Einen Moment lang wurde ihr schwindlig vor Erleichterung, doch dann kehrte die Sorge um die anderen, um ihre Eltern, Pirx und Grog, mit einem Stich des schlechten Gewissens zurück.

      »Wir wissen nicht, was mit den anderen ist«, sagte Robert, als könne er ihre Gedanken lesen. »Die Welt ist nicht untergegangen, also scheint irgendjemand Fenrir aufgehalten zu haben, aber alles andere …« Er hob die Schultern. »Anne hat auch keine Informationen über Bandorchu und den Getreuen. Wir sitzen in einem schwarzen Loch der Unwissenheit.«

      Nadja drehte den Kopf, als sie eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Anne trat aus den Schatten am Kopfende des Feldbetts. Sie bewegte sich elegant, aufreizend, so als sei jeder Schritt Teil einer Darbietung auf einer Bühne, die nur sie sehen konnte. Robert war ihr verfallen, und langsam begann Nadja zu verstehen, weshalb.

      »Anne«, sagte sie zur Begrüßung.

      »Nadja.« Anne imitierte ihren Tonfall, klang abschätzend, distanziert, ein wenig misstrauisch. Ihre Mundwinkel zuckten, als fände sie etwas daran amüsant.

      Talamh gluckste. Nadja setzte sich auf die Kante des Feldbetts und nahm ihn vorsichtig hoch. Das Gefühl, ihren eigenen Sohn in den Armen zu halten, war ebenso vertraut wie fremd. Während sie ihre Bluse aufknöpfte und begann, ihn zu stillen, sah sie sich in dem Raum um. Es gab keine Regale, nur einen alten, von Zeitschriften und uralten Musikkassetten bedeckten Klapptisch, vor dem ein noch älter wirkender Holzstuhl stand. Ein Kassettenrecorder stand auf einem Hocker neben der halb geöffneten Tür. Durch das Milchglas im oberen Drittel des Metalls sah Nadja schemenhafte Bewegungen. Irgendwo vor der Tür lief Musik.

      An den grau gestrichenen Wänden des Zimmers hingen Bilder aus Disney-Filmen und der Muppet-Show. Die meisten stammten aus Zeitschriften und waren sorgfältig ausgeschnitten und mit Klebeband befestigt worden. Nadja erkannte Kermit, den Frosch, Miss Piggy, Susi und Strolch, Baghira, den Panther und Balu, den Bären. In der Mitte der vorderen Wand, direkt über dem Schild, auf dem Zum Frauen-Abort stand, hing ein gerahmtes Dschungelbuch-Poster. Jemand hatte Mowgli ausgeschnitten, sodass Balu mit einem grauen Fleck mitten im Dschungel zu tanzen schien.

      Sie warf einen Blick auf die restlichen Bilder. Auf keinem war ein Mensch zu sehen.

      Talamh rülpste leise. Nadja klopfte ihm auf den Rücken und schloss ihre Bluse wieder. Sie bemerkte, dass Robert sich abgewandt hatte, während Anne sie aus dunklen Augen beobachtete.

      »Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Nadja.

      Robert sah auf die Uhr. »Es ist zwei Uhr morgens, also nicht lange, vielleicht eine halbe Stunde.«

      »Und wo sind wir?«

      »Im Schutzbereich Sieben.«

      Die fremde Stimme ließ Nadja zusammenzucken. Sie fuhr herum und sah ein schwarz gekleidetes Mädchen im Türrahmen stehen. Sie hielt ein Tablett mit mehreren Tassen in den Händen. Robert und Anne wirkten nicht überrascht. Sie schienen ihr bereits begegnet zu sein.

      »Wollt ihr einen Kaffee?«, fragte das Mädchen. Nadja schätzte es auf achtzehn, höchstens neunzehn.

      Das lange, tiefschwarz gefärbte Haar hing ihr tief ins Gesicht. Auf ihrem T-Shirt stand Wir sind die Asche von morgen.

      Optimistisch, dachte Nadja.

      »Wenn du nicht verrätst, wo der herkommt, gern.« Robert nahm ihr das Tablett aus den Händen und stellte es neben den Kassettenrecorder auf den Hocker.

      »Das ist Emma«, sagte er, während er Nadja eine der Tassen reichte. Anne bot er keine an. »Sie fand uns, als wir durch die Tunnel irrten, und führte uns hierher.« Er nickte Emma zu. »Vielen Dank noch mal.«

      »Kein Thema.« Das Mädchen hob die Schultern. »Ihr seid ja okay.«

      Der Unterton, der in ihren Worten mitschwang, verriet, dass sie selbst nicht genau wusste, weshalb sie ihnen geholfen hatte. Nadja hätte es ihr erklären können. Es war Annes magische Beeinflussung, die dafür sorgte, dass Emma sich sicher fühlte und nicht zu viele Fragen stellte, weder über die Herkunft der Fremden, noch über den Säugling, der sie aus Augen anblickte, in denen es kein