Ortwin Ramadan

Moses und der kalte Engel


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      Ortwin Ramadan

      Moses und der kalte Engel

      Der dritte Fall für Stefan Moses

      Kriminalroman

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      Die regennassen Straßen waren wie ausgestorben, und auf dem schwarzen Wasser der Außenalster spiegelten sich die wenigen Lichter, die zu dieser späten Stunde noch brannten. Eigentlich mochte sie diese Zeit kurz vor Tagesanbruch, wenn es noch dunkel und in der Stadt so ruhig war, als käme sie tatsächlich für einen Moment zur Besinnung. Aber jetzt empfand sie diese stille Leere als ein unheilvolles Omen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Bitte, lass es einen Irrtum sein! Einen Fehlalarm, irgendeine dumme Verwechselung! Sie wischte mit dem Handschuh die Regentropfen von ihrem Helmvisier, ließ den Motor ihrer Yamaha aufheulen und jagte weiter durch die Nacht. Sie flog geradezu über die Hohenfelder Brücke, und als sie in den Schwanenwik Richtung Krankenhaus einbog, wäre sie in der lang gezogenen Kurve auf dem nassen Asphalt beinahe weggerutscht. Es gelang ihr gerade noch, die schlingernde Maschine wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit klopfendem Herzen raste sie weiter die Sechslingspforte entlang. Sie bremste scharf und bog in die Barcastraße. Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie zwängte sich mit dem Motorrad an der geschlossenen Parkplatzschranke vorbei und stellte es hastig ab. Während sie auf den Eingang des Krankenhauses zurannte, riss sie sich den Helm vom Kopf.

      »Wo ist die Notaufnahme?«

      Die Schwester hinter dem Empfangstresen zuckte zusammen. Um vier Uhr morgens an einem Wochentag ging es selbst in der St.-Georg-Klinik, Hamburgs am häufigsten angefahrenem Notfallkrankenhaus, eher gemächlich zu. Umso erstaunter war sie, als plötzlich eine völlig durchnässte junge Frau in Lederjacke und mit Motorradhelm in der Hand vor ihr stand.

      Katja verdrehte ungeduldig die Augen. Sie riss sich die Handschuhe von den Fingern und fischte ihren Dienstausweis aus den Tiefen ihrer Lederjacke.

      »Die Notaufnahme? Bitte! Wie komme ich dahin?«

      Die Schwester schielte ungläubig auf den Ausweis. Dass die aufgelöste junge Frau Kommissarin war, schien sie nur noch mehr zu verwirren.

      Schließlich hatte sie sich gefangen. Sie deutete auf einen Durchgang: »Zur Zentralen Notaufnahme geht es da entlang. Einfach immer den Schildern nach. ZNA. Aber vielleicht sagen Sie mir erst einmal, worum es geht? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

      »Danke«, sagte Katja. »Nicht nötig. Ich komm allein zurecht!«

      Sie fuhr herum und rannte in die angezeigte Richtung, wobei ihre nassen Springerstiefel auf dem polierten Boden ein schmatzendes Geräusch verursachten. Sie folgte den Hinweisschildern, überquerte einen Innenhof, und als sie das dahinterliegende Gebäude betrat, hatte sie die nach amerikanischem Emergency Room-Vorbild gestaltete Notaufnahme endlich gefunden.

      »Hey, nicht so stürmisch!«, rief der Pfleger hinter der orangefarbenen Theke, als Katja an ihm vorbeirennen wollte. »Wo wollen Sie hin?«

      »Ich …« Sie blieb stehen und suchte erneut nach ihrem Dienstausweis. In diesem Moment hörte sie eine bekannte Stimme.

      »Alles in Ordnung!« Oberkommissar Leitner winkte ihnen aus dem Wartebereich zu. »Die gehört zu mir.«

      Der Pfleger musterte Katja. Schließlich gab er mit einem desinteressierten Nicken den Weg frei.

      Katja eilte zu ihrem Kollegen in den Wartebereich.

      »Wie ernst ist es?«, bestürmte sie Leitner. »Jetzt sag schon! Schwebt er in Lebensgefahr?«

      Leitner hob abwehrend die Hände. »Ich weiß es nicht. Sie operieren noch. Angeblich hat er viel Blut verloren.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Hier sagt einem ja keiner was.«

      Katjas Miene verdüsterte sich. »Das kann doch nicht sein! Schließlich ist er einer von uns.«

      »Ich denke, das spielt hier keine Rolle.« Leitners Blick wanderte durch den mit Fotodrucken aufgehübschten Wartebereich. Wenigstens gab es im Moment keine weiteren Notfälle, und sie waren allein. Er sah seine Kollegin an: »Wie konnte das überhaupt passieren? Ich dachte, ihr seid gestern Abend zusammen unterwegs gewesen.«

      »Das waren wir auch«, erwiderte Katja zerknirscht. »Aber dann wollte er unbedingt alleine da hin. Keine Ahnung, warum. Du weißt ja, wie er manchmal ist.«

      Vor genau dieser Frage hatte Katja sich gefürchtet. Seitdem Leitner sie mit seinem Anruf aus dem Schlaf gerissen hatte, quälte sie sich mit Vorwürfen. Es war ganz allein ihr Fehler gewesen. Sicher, sie war schrecklich müde gewesen, und er hatte darauf bestanden, dass sie sich ausschläft. Dennoch hätte sie ihn niemals allein gehen lassen dürfen. Sie hätte darauf bestehen müssen, ihn zu begleiten. Sie hätte es verhindern können.

      Wenn Moses heute Nacht starb, war es allein ihre Schuld.

      1.

      Die Lichter der Einsatzfahrzeuge tauchten das Kopfsteinpflaster der Friedrichstraße in ein flackerndes Blau. Streifenwagen blockierten die Fahrbahn, und der Gehweg vor dem leer stehenden Haus war weiträumig abgesperrt. Das Aufgebot an Uniformen war selbst für St. Pauli spektakulär, und so hatten sich bereits etliche Nachtschwärmer aus den umliegenden Kneipen, Bars und Sexclubs eingefunden, die mit gezückten Handys das Absperrband belagerten. Moses warf einen Blick in den Rückspiegel und überprüfte den Sitz seiner Krawatte. Danach stieg er aus dem Wagen und zwängte sich durch die Menge der Schaulustigen. Als er unter dem rot-weißen Absperrband hindurchschlüpfte, baute sich ein junger Streifenpolizist vor ihm auf. Er wirkte verfroren und ein wenig überfordert.

      »Halt!«, herrschte er Moses an. »Wo wollen Sie hin? Zurück hinter die Absperrung!«

      Dass man ihm den Polizisten nicht abnahm, passierte ihm ständig, und er konnte nicht behaupten, dass er sich daran gewöhnte. Es nervte gewaltig. Als er in seinen Mantel greifen wollte, um sich auszuweisen, ging ein weiterer Polizist dazwischen. Er war deutlich älter und die vier blauen Sterne auf den Schulterklappen wiesen ihn als Polizeihauptmeister aus. Offenbar handelte es sich um den Einsatzleiter.

      »Alles in Ordnung!«, beschied er dem jungen Beamten. »Der Herr Kommissar ist nicht zum Vergnügen hier. Kümmern Sie sich wieder um die Leute!«

      Der junge Beamte musterte den vor ihm stehenden elegant gekleideten schwarzen Kriminalkommissar ungläubig von Kopf bis Fuß. Schließlich blies er sich in die kalten Hände und kehrte auf seine Position zurück.

      »Danke«, sagte Moses an den bulligen Polizeihauptmeister gewandt. Er glaubte, sich an das breite Gesicht mit der Boxernase zu erinnern. »Sind Sie der Verantwortliche hier?«

      »Der bin ich.« Der Beamte schob sich seine Mütze in den Nacken. Als er ansetzte, um fortzufahren, wurde er von den Zurufen der Schaulustigen hinter dem Absperrband unterbrochen.

      »Ist der Scheißkerl tot?«, rief ein Mann mit Handykamera vor dem Gesicht. Er war sichtlich betrunken.

      »Ja, wir wollen wissen, was los ist«, mischte sich eine aufgedonnerte Mittfünfzigerin empört ein. »Wir haben ein Recht darauf! Wir arbeiten hier!«

      »Ja, und was ist mit der Bombe?«, rief ein anderer.

      »Was denn für eine Bombe?«, fragte sein Nebenmann besorgt.

      Unter den Umstehenden erhob sich zustimmendes Gemurre.

      Der Einsatzleiter fuhr genervt herum. »Ich sagte Ihnen doch: Es besteht keinerlei Gefahr! Für niemanden von Ihnen! Also seien Sie bitte vernünftig und gehen Sie weiter.« Dann wandte er sich wieder Moses zu. »Verrückte Welt«, sagte er kopfschüttelnd. »Mittlerweile denken alle sofort an einen Terroranschlag.«

      »Bei dem Aufgebot wundert mich das nicht«, entgegnete Moses. Er deutete auf die vielen Einsatzfahrzeuge und uniformierten Beamten. »War das wirklich nötig?«

      Der Polizist reagierte erstaunt. »Sie wissen nicht, warum Sie hier sind?«

      »Nein«, gestand Moses. Im Präsidium hatte man ihm lediglich die Adresse genannt.

      »Nun, in diesem Fall machen