»Nein, nehmen Sie ein paar Streifenbeamte mit. Außerdem sollten Sie noch einmal mit den Jugendlichen reden, die den Toten gemeldet haben. Und wir«, sagte Moses an Helwig gerichtet, »sehen uns die Wohnung des jungen Mannes an.«
Er ließ den Blick von einem Kommissar zum anderen wandern. »Irgendwelche Fragen?«
Als er keine Reaktion erhielt, löste er die Besprechung auf. »Also gut, gehen wir an die Arbeit!«, sagte er, während er damit begann, die Berichte und Fotos auf dem Tisch zusammenzusuchen. Stühle wurden gerückt, und die Kommissare verließen einer nach dem anderen den Raum. Allein Helwig blieb sitzen.
»Worauf warten Sie?«, fragte Moses verwundert.
Helwig schwieg und spielte mit einem Stift, schließlich hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen.
»Glauben Sie, der arme Kerl hat lange gelitten?«, fragte sie ungewohnt zaghaft.
»Der vorläufige Bericht schätzt die Zeit bis zum endgültigen Eintritt des Todes auf etwa zwei Stunden. Eher kürzer.«
»Schöner Trost.« Helwig verzog das Gesicht. »Wenn Sie mich fragen, ist der Täter nicht nur ein brutaler Sadist. Der Typ muss völlig verrückt sein, wenn er das auch noch mitten in der Stadt durchzieht. Als würde er es darauf anlegen, erwischt zu werden.«
Genau das war der Punkt, dachte Moses. Etwas, das ihn – von dem seltsamen Hühnerfuß einmal abgesehen – mehr verwirrte und beunruhigte als alles andere. Weshalb hatte der Mörder ausgerechnet diesen Ort für seine Tat gewählt? Er musste gewusst haben, dass die Jugendlichen des Viertels, Drogensüchtige und Obdachlose in dem leer stehenden Haus ein und aus gingen. Er hätte jederzeit überrascht werden können. Warum war der Täter dieses Risiko eingegangen? Und wenn der langsame Tod des jungen Mannes eine offene Warnung darstellen sollte – an wen war diese Drohung dann gerichtet?
3.
Helwig räusperte sich und deutete an den quietschenden Scheibenwischern vorbei auf die Straße. Seit sie im Präsidium in den Wagen gestiegen waren, hatte sie keinen Laut mehr von sich gegeben.
»Da vorne«, knurrte sie. »Das muss es sein.«
Moses verbarg seine Erleichterung, denn das Schweigen seiner sonst so kommunikativen Kollegin hatte ihm bereits Sorgen bereitet. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und beugte sich über das Lenkrad, um einen besseren Blick auf das mehrstöckige Wohnhaus werfen zu können. Er wusste nicht, was er von der Kiezadresse Kastanienallee erwartet hatte. Jedenfalls kein frisch renoviertes Gründerzeit-Haus mit einer strahlend weißen Fassade. Helwig schien seine Gedanken zu erraten.
»Nicht übel für einen Kleindealer«, staunte sie. »Offenbar liefen die Geschäfte richtig gut.«
»Noch wissen wir nicht, ob er auch mit Drogen gehandelt hat«, gab Moses zu bedenken.
Er parkte den Wagen auf der gegenüberliegenden Seite unter den Bäumen. Es waren tatsächlich Kastanien. Auch wenn die Bäume zu dieser Jahreszeit noch keine Blätter trugen und nicht gerade von imposanter Größe waren, verliehen sie der Kiezstraße doch etwas beinahe Beschauliches. Dass jenseits des Häuserblocks Nacht für Nacht das Partyleben über die Reeperbahn wogte und nur ein Stück weiter die Straße runter jegliche Behaglichkeit im grellen Neongekreische der Bierstuben und Sexclubs ertrank, ließ sich hier nur erahnen. Ebenso wie der Umstand, dass nur wenige Gehminuten von hier ein junger Mann grausam ermordet worden war.
»Bingo! Er wohnte tatsächlich hier.« Helwig deutete auf das polierte Klingelschild. »Klingeln wir uns rein?«
»Ich denke, das wird nicht nötig sein«, sagte Moses, denn in diesem Moment öffnete sich die Haustür. Eine junge schwarze Frau kam mit einer leeren Einkaufstasche aus dem Haus. Sie hatte es offenbar eilig, denn sie bemerkte die Kommissare erst im letzten Moment. Sie zuckte zurück und riss erschrocken die Augen auf. Dann drückte sie sich mit eingezogenem Kopf hastig an ihnen vorbei.
»Mit der stimmt was nicht«, sagte Helwig, während sie der jungen Frau nachsahen, die in Richtung Friedrichstraße davoneilte. »Ich wette, die ist illegal hier. Deshalb rennt sie davon.«
»Sie kann nicht wissen, wer wir sind«, gab Moses zu bedenken, woraufhin Helwig nur trocken lachte.
»Wenn Sie illegal hier leben würden, könnten Sie auch jeden Beamten auf hundert Meter Entfernung riechen. Das garantiere ich Ihnen!«
»Vielleicht haben Sie recht«, räumte Moses ein. »Aber im Moment interessiert uns etwas anderes. Also gehen wir.«
Er hatte die zufallende Tür mit einer Hand aufgehalten, jetzt schob er sie wieder auf. Im Treppenhaus setzte sich der äußere Eindruck des Hauses fort. Alles war blitzsauber, es roch förmlich nach neu. Mattis’ Wohnung mussten sie nicht lange suchen. Sie befand sich gleich im ersten Stockwerk.
Helwig drückte auf den in die Wand eingelassenen Klingelknopf. Als niemand öffnete, klopfte sie energisch gegen die Wohnungstür.
»Hallo? Jemand zu Hause? Hier ist die Polizei!«
Moses und Helwig warteten erneut, aber wieder rührte sich nichts. Stattdessen hörten sie hinter sich eine Stimme.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Sie drehten sich um. In der Tür der Nachbarwohnung stand ein älterer schmächtiger Mann mit schütterem Haar. Er trug einen gestreiften Bademantel und hatte plüschige Pantoffeln an den Füßen.
»Das können Sie tatsächlich«, sagte Moses kurz entschlossen. »Gibt es in diesem Haus so etwas wie einen Hausmeister?«
»Der bin ich«, antwortete der Mann misstrauisch. »Nebenbei. Und nur, wenn was ist.«
»Umso besser!« Moses wies sich aus. »Kriminalpolizei. Wir benötigen einen Schlüssel für diese Wohnung.«
»Aber …«
»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, mischte sich Helwig ungeduldig ein. »Haben Sie einen Zweitschlüssel oder nicht?«
Der Mann blickte sie erschrocken an. »Ja. Doch. Natürlich«, stotterte er.
Er drehte sich um, schlurfte in seine Wohnung, und kurz darauf kehrte er mit einem Schlüssel zurück.
»Der passt überall«, sagte er schulterzuckend und schloss die Wohnungstür auf.
»Vielen Dank«, sagte Moses. »Sie haben uns sehr geholfen.«
»Aber, dürfen Sie überhaupt …?«
»Danke für Ihre Mithilfe«, wiederholte Helwig mit Nachdruck. Sie setzte ein Gesicht auf, das keinen Widerspruch duldete.
Der Mann warf Moses einen verunsicherten Blick zu. Er zögerte, doch am Ende verschwand er leise schimpfend in seiner Wohnung und knallte die Tür zu.
»Sie hätten ruhig etwas freundlicher sein können«, meinte Moses.
»Ach was!«, winkte Helwig ab. »Der wäre uns doch aus Neugier immer weiter auf den Pelz gerückt. Ich kenne diese Typen: Rentner mit Kohle und jeder Menge Langeweile.«
Moses konnte dem nicht viel entgegensetzen. Also sah er sich in der Wohnung um. Er staunte nicht schlecht. Vier großzügige Zimmer auf geschätzten hundertzwanzig Quadratmetern. Dielenparkett, Designerküche und ein schickes Bad inklusive. Im Innenhof gab es sogar einen nachträglich angebauten Stahlbalkon samt Feuerleiter. Eines war jedoch ungewöhnlich. Die Zimmer wirkten fast kahl, an den Wänden hingen keinerlei Bilder, und die wenigen Möbel waren augenscheinlich neu.
»Sieht so aus, als sei er gerade erst eingezogen«, stellte Helwig nüchtern fest. »Offenbar hat unser kleiner Dealer vor Kurzem im Lotto gewonnen.«
»Das glauben Sie doch nicht ernsthaft, oder?«
»Natürlich nicht! Hier ist definitiv was faul. Haben Sie den Koffer gesehen?«
»Den auf dem Bett im Schlafzimmer?« Moses hatte ihn bei ihrem ersten Rundgang durch die Wohnung bemerkt.
»Vielleicht