Ortwin Ramadan

Moses und der kalte Engel


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Helwig stand weiterhin mit verschränkten Armen vor ihm. Sie nickte in Richtung Tür. »Und was machen wir jetzt mit ihr? Wenn die hier rausgeht, dann sehen wir sie nie wieder. Darauf verwette ich meinen Hintern!«

      Moses fuhr sich über den Nacken. Ihm war bewusst, dass er eine Entscheidung fällen musste. Helwig hatte natürlich recht. Bei der jungen Frau bestand akute Fluchtgefahr, und wenn sie erst einmal im Migrantenmilieu untergetaucht war, wurde es schwer sie wiederzufinden.

      »Aber aus welchem Grund sollten wir sie festhalten?«, gab er zu bedenken. »Sie ist – wenn überhaupt – lediglich eine Zeugin, keine Verdächtige.«

      »Wie wär’s mit Angriff auf eine Polizeibeamtin?« Helwig zeigte auf ihr verunstaltetes Gesicht.

      Moses wusste, dass ihm letztendlich keine Wahl blieb, als die junge Frau unter einem Vorwand vorläufig festzuhalten. Bislang war sie der einzige konkrete Ansatzpunkt, den sie in diesem bizarren Mordfall hatten. Er konnte sie unmöglich ohne eine Aussage einfach so gehen lassen. Was er brauchte, war Zeit, um mehr über sie herauszufinden.

      »Also gut«, entschied er. »Ich übernehme die Verantwortung. Sorgen Sie dafür, dass man ihr die Fingerabdrücke abnimmt und sie gut unterbringt.«

      »Mit welcher Begründung? Was soll ich den Kollegen sagen?«

      »Denken Sie sich was aus!«

      Helwig nickte. An ihrem leisen Lächeln konnte Moses ablesen, dass sie ihren kleinen Triumph genoss. Während sie zusammen in das Besprechungszimmer zurückkehrten, sah Moses auf seine Armbanduhr. Inzwischen musste Juliane längst im Flieger sitzen. Auf dem Weg ins Nirgendwo. Warum er ausgerechnet jetzt daran dachte, war ihm schleierhaft. Schließlich hatte er im Moment wirklich andere Probleme. Wie auf ein Stichwort hin ließ ihn ein schriller Schrei aufblicken.

      Offenbar hatte Helwig ihre Hand auf die Schulter der jungen Frau gelegt, um sie zum Aufstehen aufzufordern, woraufhin diese mit einem Schrei aufgesprungen war. Jetzt schlug sie wie von Sinnen auf seine Kollegin ein. Helwig wurde von der heftigen Reaktion völlig überrascht. Sie wich einen Schritt zurück und riss instinktiv die Arme hoch. Moses sprang hinzu, doch bevor er einschreiten konnte, bekam Helwig ein Handgelenk der Angreiferin zu fassen. Sie wirbelte herum, drehte ihr den Arm auf den Rücken und knallte ihren Oberkörper hart auf den Tisch.

      »Tu das nie wieder«, zischte sie der jungen Frau ins Ohr, während sie mit ihrem ganzen Gewicht auf ihr lag und ihr die Luft aus der Lunge presste.

      Moses berührte sie am Arm. »Es reicht«, sagte er scharf. »Ich glaube, sie hat verstanden!«

      Helwig schien ihn nicht zu hören. Die junge Frau unter ihr keuchte und stöhnte vor Schmerzen. Schließlich entspannte Helwig sich. Sie lockerte ihren Griff und gab der jungen Frau wieder mehr Luft zum Atmen.

      Moses war erleichtert. Für einen abscheulichen Moment hatte er befürchtet, seine Kollegin würde ihrer Zeugin den Arm brechen.

      »Bringen Sie sie weg«, sagte er, nur um seine Entscheidung sofort wieder zu korrigieren. »Nein, warten Sie! Vielleicht ist es besser, wenn Elvers sich darum kümmert.«

      Helwig gab einen Laut von sich, den er weder als Zustimmung noch als Widerspruch zu deuten vermochte. Seine Kollegin musste dringend lernen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, wie er fand. Emotionen machten in ihrem Job alles nur noch schlimmer, wie er nur allzu gut wusste. Als Helwig mit der jungen Frau den Raum bereits verlassen hatte und er ebenfalls gehen wollte, bemerkte er etwas auf dem Boden. Moses bückte sich und hob es auf. Es handelte sich um ein kleines, rechteckiges Päckchen aus speckigem Leder. So etwas hatte er noch nie gesehen. Das Ganze war mit grobem Zwirn zusammengenäht und besaß etwa die Größe einer Visitenkarte. Die junge Frau musste das Lederpäckchen bei dem Handgemenge mit Helwig verloren haben. Nachdenklich betrachtete er den seltsamen Gegenstand von allen Seiten. Er fragte sich, was in dem Lederpäckchen eingenäht war. Und wozu diente es?

      7.

      Moses steckte das merkwürdige Objekt ein und verließ den Besprechungsraum. Bis Helwig zurückkehrte und sie dieser Hilfsorganisation, bei der sich der Tote engagiert hatte, einen Besuch abstatten konnten, blieb noch Zeit für einen Espresso. Die private Kaffeemaschine gehörte zu den Dingen, die er sich einfach leisten musste, und er freute sich schon den ganzen Morgen darauf, sie endlich in Gang zu setzen. Als er jedoch in freudiger Erwartung die Tür zu seinem Büro aufstieß, hielt er überrascht inne. Sein Adoptivbruder stand am Fenster und hatte die dort stehende Buddhafigur in die Hand genommen. Als die Tür aufflog, fuhr Henning erschrocken herum, wobei ihm beinahe die Figur entglitten wäre.

      »Vorsicht!«, schrie Moses. Ihm blieb beinahe das Herz stehen. Der tönerne Buddha war zwar kein Museumsstück, aber er war alt, sehr alt sogar. Henning grinste schief und stellte die Figur zurück auf ihren Platz.

      »Moin«, begrüßte er seinen Adoptivbruder.

      Dann trat er auf Moses zu, und sie umarmten sich. Auch wenn sie nicht blutsverwandt waren, hatten sie sich schon immer gut verstanden. Sie teilten ihre gemeinsame Jugend, und der Flugzeugabsturz ihrer Eltern hatte ihr Verhältnis nur noch inniger werden lassen. Wobei sie sich nicht allzu häufig sahen, denn Henning hatte nach dem Tod seines Vaters die Familienreederei übernommen. Manchmal fragte sich Moses allerdings, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sein Adoptivbruder das Erbe ausgeschlagen und die Reederei abgestoßen hätte. Die Verantwortung schien ihn förmlich aufzufressen. Obwohl er die kräftige Statur seines Vaters geerbt hatte und schon als Jugendlicher vor Tatendrang stets zu platzen schien, wirkte Henning in der letzten Zeit müde und ausgebrannt. Darüber konnten weder der perfekt sitzende marineblaue Zweireiher noch die Solariumbräune hinwegtäuschen. Das tägliche Ringen mit den Unwägbarkeiten der Weltwirtschaft kostete ihn zweifelsohne nicht nur seine bereits spärlich gewordenen Haare.

      »Du siehst schlecht aus«, bemerkte Moses, nachdem er sich aus der Umarmung gelöst hatte. »Und mal abgesehen davon: Wie kommst du überhaupt hier rein?«

      »Dein Kollege, so ein Jungspund mit dicker Brille, hat mich mit hoch genommen. Er hat am Empfang zufällig mitbekommen, wie ich nach dir gefragt habe.« Henning biss sich auf die Lippe. »Ich muss dringend mit dir reden!«

      Moses ahnte nichts Gutes. Henning hatte ihn in all den Jahren nur selten im Präsidium aufgesucht, denn sein Verhältnis zur Polizei und zu Staatsorganen im Allgemeinen war eher angespannt. In dieser Hinsicht stand er ganz in der Tradition seiner hanseatischen Familie.

      »Okay, aber mach es kurz«, sagte Moses. »Ich muss gleich los. Willst du auch einen Espresso?«

      Er warf das seltsame Ledersäckchen seiner Zeugin auf den Schreibtisch. Dann machte er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, an der Kaffeemaschine zu schaffen.

      »Seit wann glaubst du an Geister?«, wunderte sich Henning.

      »Wie kommst du darauf?«, fragte Moses über die Schulter, während er die Menge der Kaffeebohnen abmaß.

      »Na, wegen dem Gris-Gris da!«

      Moses hielt inne. Er stellte die Dose wieder ab und drehte sich verwundert um.

      Henning deutete auf das kleine Ledersäckchen auf dem Schreibtisch. »Ich freue mich, dass du dich endlich für deine afrikanischen Wurzeln interessierst.«

      »Wie meinst du das?«, erwiderte Moses irritiert. Im Gegensatz zu Henning, der seine Faszination für den afrikanischen Kontinent und dessen Kulturen von seinen Eltern quasi mit in die Wiege gelegt bekommen hatte, machte er selbst einen großen Bogen um alles, was mit Afrika zu tun hatte. Was er Nacht für Nacht in seinen Träumen sah, reichte ihm voll und ganz.

      »Wie hast du das Ding genannt?«, fragte er stirnrunzelnd.

      »Gris-Gris«, sagte Henning. »Das ›Ding‹ da ist eine Art Schutzzauber, ein magisches Amulett. Meist sind Haare, Fingernägel oder Zaubersprüche darin eingenäht.« Er nahm das speckige Ledersäckchen neugierig in die Hand. »Woher hast du es?«

      »Von einer Zeugin.«

      »Afrikanerin?«

      »Wissen wir noch