Hang hielten sie sich unterhalb des oberen Kamms, um keine verräterischen Silhouetten zu bieten. Sobald sie weit genug entfernt waren, um nicht mehr entdeckt zu werden, brachte Poke die Gruppe zum Stehen und reichte Jenn ein Fernglas, um sich den Ort genauer anzusehen. Einige Teile der Stadt waren verlassen und verwahrlost. Die wenigen alten Autos, die die Straßen säumten, hatten platte Reifen, Gärten hatten ihre Eingrenzungen überwunden und waren wild gewuchert und die Gebäude sahen heruntergekommen aus, mit eingeworfenen Fenstern, abblätternder Farbe und schief herunterhängenden Regenrinnen. Anhand einer Gruppe von Fahrzeugen in Tarnfarben konnte Jenn sehen, wo ein kleiner Bereich noch von Edens Grenzpersonal bewohnt wurde. Einige Häuser waren mit größeren Stahlcontainern in den Vorgärten und zwischen den Gebäuden befestigt worden Jenn nahm an, dass es sich bei den Stahlgebäuden um Waffenlager handelte.
»Haben Sie da unten jemanden?«, fragte Jenn.
»Scheiße, nein!«, erwiderte Poke. »Einem Zed würde ich nie vertrauen. Das ist ein Haufen blutrünstiger Söldner.«
»Und wie kommen wir dann rein?« Jenn wusste, dass es umfangreiche elektronische Sicherheitsmaßnahmen geben würde, sobald sie die wahre Grenze erreichten, genau wie physische, natürliche wie künstlich geschaffene, die fast unmöglich zu überwinden waren. In die anderen Zonen kamen sie normalerweise, indem ihr Führer eine Abmachung mit jemandem getroffen hatte, entweder einem Zed oder einem der vielen Wartungsleute, die sich um die riesigen und komplexen Grenzanlagen der Zonen kümmerten.
»Mach dir darüber mal keine Sorgen«, sagte Poke.
»Ich mache mir aber Sorgen.«
»Überlass das mal mir. Dafür bezahlt ihr mich ja.«
Jenn warf einen letzten Blick durch das Fernglas, bevor sie es zurückgab. Die alte Frau sah sie wieder irritiert an, etwas schien sie zu beschäftigen.
»Was zum Teufel …?«, begann Jenn, da summte Pokes Uhr. Sie warf einen Blick darauf, stand auf und winkte sie weiter.
»Siebzig Minuten, dann machen wir zehn Minuten Pause«, sagte sie. »Danach werden die Dinge kompliziert.«
»Was ist mit ihr?«, fragte Aaron, als er Jenn erreichte.
»Keine Ahnung.«
»Es ist, als ob sie dich erkennen würde.« Er legte einen Arm um ihren Hals, zog sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie weitergingen. Er war stark, zuverlässig und ihr eine gute Stütze beim Marathon des Sables gewesen, einem mehrtägigen Ultramarathon durch die Sahara. Am Ende des Rennens war sie auch seine Stütze geworden. Sie hatten sich am ersten Abend getroffen, als sie sich ein Zelt mit anderen Läufern geteilt und von anderen Rennen und Abenteuern erzählt hatten. Einer der Männer hatte erwähnt, wie er mal die sibirische unberührte Zone durchquert hatte, bekannt als Zona Smerti, und seine Geschichte hatte die meisten von ihnen mit offenem Mund staunen lassen. Doch nicht Aaron. So plumpe Prahlereien beeindruckten ihn nicht. Was ihn beeindruckte, war stille Entschlossenheit, die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, und der Triumph des Geistes über den Körper.
Jenn würde den letzten Tag dieses harten Rennens niemals vergessen. Sie lief den finalen Abschnitt des Marathons mit vor Blasen vollkommen zerfetzten Füßen, drei fehlenden Fußnägeln, durch Sonnenbrand aufgeplatzter Haut um die Lippen, Augen und Ohren und den Folgen eines am frühen Morgen plötzlich aufgetretenen Sandsturms. Hinter der Ziellinie war sie zusammengebrochen und hatte sich geweigert, Hilfe anzunehmen, bis sie Aaron eine Stunde nach ihr ins Ziel rennen sah.
»Meine Füße«, keuchte er, als er gegen sie rannte, weil sich sein Gehirn weiter im Rennmodus befand – immer weiter vorwärts. Später hatten sie festgestellt, dass er sich in beiden Füßen Stressfrakturen zugezogen hatte.
»Ich will sie nicht sehen«, sagte sie.
»Ich will sie abschneiden. Irgendjemand soll mir die Füße abschneiden.« Er umarmte sie und die Nähe fühlte sich so natürlich an. Die gegenseitige Zuneigung zwischen ihnen war so offensichtlich wie die Hitze und der Schweiß und der Gestank ihrer ungewaschenen Körper. Beide weinten. Ihre Tränen vermischten sich wie Blut und verbanden beide auf ewig miteinander. In Jenns Erinnerung hatte dieser Moment etwas Magisches an sich. Sie hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, doch das hier kam dem schon sehr nah.
Genau das ist es, dachte Jenn, während Aaron und die anderen Poke den Hang entlang folgten. Es ist, als ob sie mich erkennen würde. Sie war ein Name, der Poke auf der Zunge lag, eine verschüttete Erinnerung, die langsam wieder zur Oberfläche aufstieg.
Nur ihr Vater hatte Poke schon einmal getroffen. Poke selbst hatte erwähnt, dass sie sich noch nie weit von diesem Ort entfernt hatte. Darum kannte sie ihn so gut. Der einzige Grund, warum Poke sie wiedererkennen könnte, war der, dass Jenn sie an jemand anders erinnerte.
»Eden«, sagte Poke.
Zuerst sah Jenn kaum einen Unterschied zu der Aussicht im Tal, durch das sie die letzten Stunden gewandert waren. Weitere Bäume, weitere Berge, weitere Täler. Poke hatte sie nach einem exakten Zeitplan hergebracht und selbst jetzt sah sie immer wieder auf ihre Uhr.
»Fünfundzwanzig Minuten«, erklärte ihre Führerin. »Ab hier wird es knifflig.«
»Aber Sie haben unsere Route doch durchgeplant«, sagte Dylan. Ihr Vater war heute sehr still gewesen, zweifellos weil er über die Schwierigkeit der bevorstehenden Aufgabe nachgedacht hatte. Sie waren alle ziemlich still gewesen, selbst Gee. Auch wenn sie sich gemeinsam auf einer Expedition befanden, bereitete sich doch jeder von ihnen mental auf seine eigene Art vor.
»Das habe ich«, antwortete Poke.
»Aber es ist dennoch knifflig?«, fragte Lucy.
Poke seufzte schwer, sah erneut auf ihre Uhr und lehnte sich gegen einen Baum. Sie massierte ihre Knie. Es war das erste Mal, dass sie sich eine Spur von Anstrengung anmerken ließ.
»Natürlich ist es das«, sagte sie. »Schaut doch nur. Ihr alle. Schaut genau hin.«
»Wonach suchen wir denn?«, erkundigte sich Cove, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen taten sie, was ihre Führerin ihnen gesagt hatte.
Jenn und Aaron standen nebeneinander. Ihre Arme berührten sich und beide keuchten vor Anstrengung. Sie waren daran gewöhnt. Sie genossen es. Jenn konnte ihn riechen, eine vertraute Mischung aus Wärme und Schweiß.
»Es sieht so … tief aus«, sagte er grinsend und Jenn stieß ihn an. Doch er hatte recht. Auf der anderen Seite des Tals, hinter einem schmalen Fluss erstreckte sich Eden bis in die Ferne über geschwungene Hügel mit dunklen Schluchten, in denen sich alles verbergen konnte. Es war unbestreitbar tief.
Tief war das Wort, mit dem sie ihren Albtraum beschrieb. Es war ungenau, doch das passendste Wort, das ihr einfiel. Immer wenn sie krank oder erschöpft war, suchte diese Tiefe ihren Schlaf heim und ließ sie manchmal schweißgebadet aufwachen. Es war eine Ahnung unbekannter, unendlicher Weite. Sie hatte versucht, Aaron diese Albträume zu erklären, wenn sie schreiend neben ihm aufgewacht war und er sie gefragt hatte, was sie hatte. Mit einem nächtlichen Kaffee in der Hand hatte sie von den Ängsten erzählt, die ihren Schlaf heimsuchten. Wie alle schlimmen Albträume ließen auch diese sich nicht leicht erklären. Worte wurden ihnen nicht gerecht. »Es ist ein Gefühl endloser, gewaltiger Tiefe«, hatte sie gesagt. »Als ob mich das Universum verschluckt und vergessen hätte.«
Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie in den Arm genommen hatte, wenn sie wieder einmal aus einer Kindheitsversion dieses Albtraums aufgewacht war. Sie hatte Jenn nie fragen müssen, was los war, und Jenn hatte es nie zu erklären versucht. Die Arme ihrer Mutter hatten gereicht. Ihre Stärke, ihr Geruch, der Trost, den sie boten, während sie sagte: »Bei mir bist du sicher.«
Als Jenn und die anderen auf die Wildnis blickten, zog ein Hauch ihres wiederkehrenden Albtraums wie ein Flüstern über die Landschaft. Ihr lief ein Schauer über den Rücken und sie schüttelte ihn ab. Der Ausblick war wunderschön, Ehrfurcht gebietend, und sie war froh, dass die Nachmittagssonne in ihrem Gesicht und die Nähe ihrer Freunde die Angst vertrieben. Sie hatte schon einige unberührte Zonen betreten, doch sie würde sich