Georges Simenon

Maigret und der einsame Mann


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Fotograf verließ den Raum, während die Männer vom Erkennungsdienst jeden Gegenstand nach weiteren Fingerabdrücken absuchten.

      »Ich nehme an, Sie brauchen uns nicht mehr«, murmelte der Vertreter der Staatsanwaltschaft.

      »Mich wohl auch nicht«, fügte Richter Cassure hinzu.

      In Gedanken versunken zog Maigret an seiner Pfeife. Es dauerte eine Weile, bis er sich bewusst wurde, dass die Frage ihm galt.

      »Nein. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

      Dann wandte er sich an den Gerichtsmediziner.

      »War er betrunken?«

      »Das würde mich sehr wundern. Aber der Mageninhalt wird uns darüber Auskunft geben. Auf den ersten Blick würde ich nicht vermuten, dass der Mann ein Trinker war.«

      »Ein Clochard, der nicht trinkt«, murmelte der Polizeikommissar, »das kommt nur ganz selten vor.«

      »Und wenn er vielleicht gar kein Clochard war?«, sagte Torrence.

      Maigret schwieg. Es war, als versuchte sein Blick, jeden noch so belanglosen Gegenstand, jedes noch so geringe Detail im Raum abzuspeichern. Es war noch keine Viertelstunde vergangen, seit der Erkennungsdienst seine Arbeit aufgenommen hatte, als der Lieferwagen des Gerichtsmedizinischen Instituts in der Sackgasse hielt. Nicolier lief hinunter, um den beiden Männern mit der Bahre den Weg zu zeigen.

      »Sie können ihn mitnehmen …«

      Man sah ihn noch einmal von vorn mit seinen vornehmen Gesichtszügen und dem sorgfältig gestutzten Kinnbart.

      »Wie schwer der Kerl doch ist!«, sagte einer der beiden Träger.

      Sie hatten alle Mühe, mit ihrer schweren Last die beschädigte Treppe hinunterzusteigen.

      Maigret rief nach Nicolier.

      »Sag mal, junger Mann, gibt es in diesem Viertel eine Schule für angehende Friseure?«

      »Ja, Monsieur Maigret. In der Rue Saint-Denis, drei Häuser neben unserer Metzgerei.«

      Vor mehr als zehn Jahren war Maigret einmal während einer Fahndung in eine dieser Friseurschulen gerufen worden. In Paris gab es wahrscheinlich elegantere Lehrstätten. Aber im Quartier des Halles konnte man kaum etwas Erstklassiges erwarten.

      Bestimmt warb die Schule in der Rue Saint-Denis Clochards und Bettler an, die die ungelenken Versuche der Lehrlinge über sich ergehen ließen.

      Dort wurden junge Friseure und Friseurinnen sowie angehende Maniküren ausgebildet.

      Aber bevor er die Schule aufsuchte, brauchte Maigret die Fotos. Im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Auswertung der Fingerabdrücke zu warten.

      Er ließ Moers und seine beiden Männer in dem Raum arbeiten und ging mit Torrence und Ascan die Treppe hinunter. Sie waren erleichtert, wieder im Freien, an der verhältnismäßig frischen Luft zu sein.

      »Was glauben Sie, warum hat man ihn umgebracht?«

      »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

      Durch einen Torbogen gelangten sie in einen Hof voller alter Kisten und ausgedientem Hausrat. Dort fand Maigret allerdings auch die Antwort auf die zuvor gestellte Frage des Doktors. An einer Mauer war eine Pumpe angebracht, und auf dem Pflasterstein darunter stand ein halbwegs unversehrter Eimer. Er bewegte den Schwengel. Zunächst tat sich nichts, doch schließlich begann das Wasser zu fließen.

      Hier wird sich der Unbekannte gewaschen haben.

      Der Kommissar sah ihn in Gedanken vor sich, wie er sich mit nacktem Oberkörper wusch.

      Er verabschiedete sich von Kommissar Ascan, marschierte in Richtung Rue de la Grande-Truanderie und dann weiter zu den Markthallen. Es wurde immer heißer, und da er telefonieren musste, nutzte er die Gelegenheit, sich in einem halbwegs ordentlichen Bistro ein Bier zu bestellen. Torrence, der ihn begleitet hatte, tat es ihm nach.

      »Geben Sie mir den Erkennungsdienst.«

      Dann verlangte er Inspektor Lebel, der sich um die Fingerabdrücke gekümmert hatte.

      »Hallo! Lebel? Waren Sie schon im Archiv?«

      »Da komme ich gerade her. Man hat dort keinen Fingerabdruck gefunden, der mit dem des Mannes übereinstimmt …«

      Auch das war ungewöhnlich. Die meisten Clochards hatten irgendwann Scherereien mit der Polizei.

      »Danke. Wissen Sie, ob die Fotos schon fertig sind?«

      »In zehn Minuten … Stimmt doch, Mestral, oder?«

      »Sagen wir in einer Viertelstunde.«

      Zur Kriminalpolizei war es nicht weit. Die beiden Männer brauchten nur wenige Minuten, um den Quai des Orfèvres zu erreichen. Maigret ging hinauf ins Labor. Er musste einen Moment warten, bis die Abzüge trocken waren. Torrence hatte er im Büro der Inspektoren zurückgelassen.

      Maigret nahm sich drei Abzüge von jeder Aufnahme, ging mit den Fotos in sein Büro hinunter und beauftragte Inspektor Lourtie, sie an die Zeitungen, vor allem an die Nachmittagsblätter, weiterzugeben.

      »Kommen Sie, Torrence. Uns bleibt noch eine Stunde bis zum Mittagessen. Wir hören uns ein wenig um.«

      Maigret gab Torrence einen Satz Fotos.

      »Die zeigen Sie den Ladenbesitzern und den Wirten in den kleinen Bars rings um die Markthallen. Wir treffen uns dann beim Auto wieder …«

      Er selbst ging in Richtung Rue Saint-Denis, einer schmalen Straße, auf der auch im August reges Treiben herrschte, denn die kleinen Leute dieses Viertels traf man nicht gerade häufig am Strand an.

      Der Kommissar folgte den Hausnummern. Die, die man ihm genannt hatte, war an einem Gebäude angebracht, in der sich eine kleine Samenhandlung befand. Links neben dem Schaufenster führte ein schmaler Durchgang in einen Hof. Auf halbem Weg gelangte man an eine Treppe, neben der an der einstmals grün getünchten Hauswand, die inzwischen einen undefinierbaren Farbton angenommen hatte, zwei Emailleschilder befestigt waren. Auf dem einen stand:

      Joseph

      Berufsschule für Friseure und Maniküren

      Und neben einem Pfeil, der auf die Treppe deutete: Hochparterre.

      Und auf dem Schild gleich darüber las man:

      Witwe Cordier

      Kunstblumen

      Der Pfeil neben diesem Schild verwies ebenfalls auf die Treppe: Zweiter Stock.

      Maigret wischte sich den Schweiß von der Stirn, stieg ins Hochparterre, stieß eine Tür auf und betrat einen weitläufigen Raum. Die zwei kleinen Fenster ließen kaum Licht ein. Für die spärliche Beleuchtung sorgten die matten Glaskugellampen, die von der Decke herabhingen.

      Dort standen zwei Reihen Lehnstühle, die eine offensichtlich für Männer, die andere für Frauen. Die angehenden Friseure und Friseurinnen arbeiteten emsig unter der Anleitung von älteren Herren. Die Aufsicht übernahm eine kleine, dürre, beinahe glatzköpfige Gestalt mit einem tintenschwarz gefärbten Schnurrbart.

      »Ich nehme an, Sie sind der Chef?«

      »Ja. Ich bin Monsieur Joseph.«

      Er hätte sechzig, aber auch fünfundsiebzig sein können. Maigret ließ seinen Blick über die Männer und Frauen schweifen, die in den vermutlich gebraucht erstandenen Lehnstühlen saßen. Man hätte glauben können, man befände sich bei der Heilsarmee oder unter den Brücken, denn sie alle waren Clochards, an denen die Lehrlinge mit Kamm, Schere und Rasiermesser herumprobierten. Es war ein eindrückliches Bild, das sich da bot, vor allem in dem spärlichen Licht. Weil es so heiß war, standen die beiden kleinen Fenster offen, und man hörte den Straßenlärm heraufdringen, was die Atmosphäre im Saal noch unwirklicher erscheinen ließ.

      Um Monsieur Joseph nicht weiter auf die Folter zu spannen, zog Maigret die Fotos aus seiner Tasche und