polternde Knabenstimme schrie in rauhem Triumph: „Wir haben die Lumbell!“
„Roderich, du Bengel!“ rief das Kind auffahrend.
Aber jetzt erscholl es von allen Seiten um ihr Obdach her: „Wir haben sie! Wir haben sie! Wir haben die Lumbell!“ Es lief wie ein ungewollter Kanon rund um den Baum.
„Wir gerben ihr das Fell!“ sang eine hellere Knabenstimme dazwischen. Das war ihr älterer Bruder Gunther, der seine dichterische Begabung gern in Knittelreimen leuchten ließ.
„Wir haben sie! Wir haben sie! Wir gerben ihr das Fell!“ sang es im Kanon mit.
Das Kind war vom Baum herabgesprungen, ohne zu beachten, daß ihr ein Büschel Haare in den Zweigen hängenblieb. Aber Roderich hatte den Vorsprung und rannte mit seinem Raub über den Steg nach dem Hause zu, die Brüder jubelnd, Vanadis schreiend hinterher. Auf dem Vorplatz machte er halt und schwang die Puppe höhnisch gegen seine Verfolgerin. Diese stürzte sich leidenschaftlich auf den Räuber ihres Kleinods. Aber sie stieß gegen eine Mauer, denn die ganze Rotte stand gegen sie zusammen.
„Laßt ihr die Puppe, sie gehört ihr!“ wehrte das Kindermädchen, das gerade mit der zweijährigen Esther im Hof spielte.
„Nein, sie gehört uns allen!“ rief es ihr entgegen.
„Die Lumbell ist eine Hexe, sie muß brennen!“ polterte die rauhe Stimme von vorhin wieder.
„Sie ist eine Hexe!“ stimmten die andern ein. „Sie ist uns auf dem Besenstiel ins Haus geritten!“
Letzteres hatte seine Richtigkeit. Die Lumbell war eine Schöpfung der erfinderischen Großmutter, Frau van der Mühlen, die im obersten Stock wohnte und die diese Geburt ihrer witzigen Laune in der verflossenen Walpurgisnacht, als draußen der Frühlingssturm tobte, spät noch am Abend auf dem Besenstiel ins Kinderzimmer geschoben hatte, wo sie mit rasendem Freudenausbruch begrüßt worden war. Vanadis aber hatte mit dem Vorrecht ihres Geschlechts die Puppe für sich allein in Beschlag genommen und damit die Brüder, wie diese meinten, um ihre rechtmäßigen Ansprüche verkürzt.
Jetzt stürzte sie zu dem Bruder, der ihr der liebste war: „Gunther, hilf du mir!“ Aber der half nicht, der Haß der Brüder auf die Lumbell war zu groß geworden. Roderich war auf den moosigen Stein gesprungen, der seitlich im Hofe lag, und die Lumbell im Arm schwingend, schrie er: „Erst wird ihr der Prozeß gemacht! Sie muß bekennen, daß sie eine Hexe ist! He, Lumbell, willst du gestehen, daß du bei Nacht zum Schornstein hinausfährst?“
Die Lumbell gestand nichts.
„Wir müssen sie mit Zangen zwicken, dann wird sie schon gestehen!“ brüllte der dicke Bruno und kam in wildem Eifer mit einer Gartenschere angerannt. Vanadis sprang dazwischen und entwand ihm die Schere, wobei sie selber an der Hand verletzt wurde. Aber auf die zweite Frage, ob sie eine Hexe sei, war die Lumbell in der Mitte eingeknickt, was als ein Ja gedeutet wurde.
„Sie hat gestanden, sie wird verbrannt! Die Hexe wird verbrannt!“ – „Nein, vorher die Wasserprobe!“ schrie Roderich, der sich im Quälen der Lumbell und ihrer Herrin nicht genugtun konnte. „Keine Wasserprobe mehr, wenn sie gestanden hat!“ entschied Gunther, der als kleiner Gelehrter, der er war, in den mittelalterlichen Rechtsbräuchen besser Bescheid wußte. – „Auf den Scheiterhaufen!“
Der kleine schlanke Enzio, den sie das Häschen nannten, lief in die Küche nach einem Feuerbrand. Unterdessen hatte Vanadis den Augenblick ersehen, um dem schlimmsten ihrer Widersacher mit katzenartiger Geschwindigkeit an den Hals zu springen und ihn ins Gesicht zu beißen, daß er unwillkürlich die Beute fahrenließ. Diese war in jammerwürdigem Zustand, das Flachshaar war ihr ausgerissen, der ganze Leib ging in Stücke. Nichtsdestoweniger hielt das kleine Mädchen sie mit verzweifelter Inbrunst ans Herz gepreßt.
Auf dem Stein flammte ein Reisigfeuer, in das die Brüder dürres Holz und Fichtennadeln warfen, der Rauch stieg in die Höhe. Vanadis blickte auf ihre Dränger mit Augen, als ob sie morden könnte. Da gewahrte sie ihr kleines Schwesterlein, wie es, aufgeregt vom Lärm der Brüder, auch sein Stecklein herzutrug in so heiligem Eifer wie jenes alte Weiblein sein gespartes Holzscheit zum Scheiterhaufen des Huß. Jetzt ging in dem Busen der Bedrängten etwas Merkwürdiges vor – sei es, daß sie ihr Geliebtestes nicht von fremden Händen sterben lassen wollte, da sie keine Rettung sah, oder war es plötzlich erwachte kindliche Grausamkeit –, sie hob die Arme, und mit einem einzigen wilden Schrei warf sie selber die Lumbell ins Feuer. Beifallstoben begrüßte die Tat, die Kinder faßten sich bei den Händen und führten einen wilden Tanz um ihr Opfer auf, das alsbald von den Flammen ergriffen war und mächtig rauchte. Dabei wiederholten sie aus heiser werdenden Kehlen immer den gleichen Singsang: „Wir haben die Lumbell!“ – worein Gunther wieder etwas Abwechslung brachte: „Die Hexe fährt zur Höll’!“
„Seht nur, was sie für greuliche Augen macht!“ schrie Roderich dazwischen.
Die Perlenaugen der Hexe funkelten noch aus der Asche heraus, in die sie gesunken waren.
Wer am wildesten sprang und am lautesten sang, aber in wortlosen Tonfolgen, war Vanadis. Sie raste wie eine kleine Mänade. Auf einmal riß sie sich aus dem Ringelreihen los, die andern wollten sie halten.
„Laßt mich! Ich hole den Don Alonso!“
„Ja, den Alonso! Her mit dem Don Alonso!“ brüllte die mordgierige Meute.
Don Alonso war das einzige männliche Mitglied ihres Puppenstaats und gleichfalls von den geschickten Händen der Großmutter gefertigt, aber mit einem richtigen Puppenkopf und -körper. Er war Kavalier vom Wirbel bis zum Zeh, in Strümpfen und Schnallenschuhen, den Hut unter dem Arm und den Degen an der Seite, ganz im Gegensatz zu der Lumbell ein allerliebstes Männchen. Aber Vanadis machte sich nichts aus ihm, er gehörte zu einem Geschlecht, von dem ihr schon allzuviel Unlust und Herzeleid widerfahren war. Sie warf ihn gleichfalls in die Glut, nachdem sie ihm zuvor noch mit grausamer Lust den Kopf an dem Stein zerschlagen hatte. Das Kind kannte sich selbst nicht mehr, sie hätte jetzt im Zerstörungsrausch alle ihre kleinen Habseligkeiten der Lumbell nachgeworfen, wenn die Brüder, die schneller zur Besinnung kamen, ihr nicht am Ende gewehrt hätten.
Als das Feuer ausgebrannt und die wilde Schar abgezogen war, stand das kleine Mädchen noch immer bei dem Opferstein und sah in den Aschenhaufen. Plötzlich erwachte sie aus dem Taumel:
„Meine Vana! Wo ist Vana?“
„Närrin, die bist du ja selber“, hohnlachte Roderich, der allein zurückkam.
„Die andre mein’ ich, die Lumbell! Meine arme Lumbell! Wo habt ihr sie?“
Das ging dem bösen Roderich über den Spott, er wurde betreten.
„Hast sie doch selbst verbrannt, du dummes Ding! Hier sind ja noch ihre Augen in der Asche.“
Da weinte das Kind auf, wie es noch nie geweint hatte, weinte stromweise unter schüttelndem Schluchzen und riß sich ganze Strähnen des blonden Haares aus. In der Verzweiflung wollte sie gar ihren Kopf in dem rauchenden Aschenrest begraben, daß die entsetzte Kinderfrau sie gegen sich selbst beschützen mußte und ihr Urfeind erschrocken davonschlich.
Wortlos in einen Winkel gekauert, verbrachte sie den Rest des Unglückstages, nachdem ihr die verwundete Hand von der Großmutter verbunden worden war. Von da an wollte sie mit keiner Puppe mehr spielen; das grausame Ende der Lumbell und ihre eigene Beteiligung daran war ein großes und schweres Erlebnis, das als tragisches Rätsel auf dem untersten Grunde des Kindergemütes zurückblieb.
Der Stern des Hauses war die alte Frau van der Mühlen. Mit einem Manne vermählt, der ihr innerlich immer fremd geblieben, hatte sie bis in die vorgerückten Jahre herauf Neigungen erweckt, deren Erinnerung sie beglückte und jung erhielt. Und noch immer suchten die Männer gerne ihre Gesellschaft, sie fühlten unter dem Schleier, den das nahende Alter ihr übergeworfen hatte, das Jugendfeuer und den Jugendreiz hindurch, jetzt von dem Schmelz einer ganz leisen Wehmut verklärt. Sie hielt sich nicht an das Herkommen, das damals die älteren Frauen zwang, auf ihre oft noch schönen Haare plumpe Stoffwülste oder unförmige Hauben zu setzen und ihre Gestalt in einer trübseligen,