sagen Sie ihr noch nichts von der Diagnose. Eva ist so furchtbar sensibel und nimmt sich alles so sehr zu Herzen. Ich glaube, diesen Job übernehme lieber ich.«
Daniel Norden hatte seine Zweifel, ob das die richtige Entscheidung war. Aber er hatte keine Wahl.
»Wie Sie wollen«, erwiderte er und ging zum Telefon, um alles Weitere in die Wege zu leiten.
*
Dieter Fuchs, Verwaltungsdirektor der Behnisch-Klinik, saß an seinem Schreibtisch und starrte auf die Tabellen, die vor ihm lagen. Wie konnte das sein? Woher rührte die Differenz zwischen seiner Berechnung und der des Controllings. Schlimm genug, wenn es sich um ein paar Cents gehandelt hätte. Aber 3462,12 Euro? Das war eine Katastrophe. Er griff sich an den Hals. Lockerte den Krawattenknoten und öffnete den obersten Knopf. Wartete auf Erleichterung. Doch nichts wurde leichter. Ganz im Gegenteil. Seit seine Tochter aufgetaucht war und in der Behnisch-Klinik entbunden hatte, war seine Welt aus den Fugen geraten. Noch immer wusste Dieter Fuchs nicht, ob Elsa – Wirtschaftsmanagement-Studium und ehemalige Wirtschaftsberaterin in einem weltweit agierenden Pharmaunternehmen – ihm eine Falle gestellt hatte oder ob es wirklich einem Missverständnis geschuldet war, dass seine Position in Gefahr war. Seit das Damoklesschwert über ihm schwebte, ging schief, was schief gehen konnte. Verlegte er Unterlagen, traf Fehlentscheidungen, übersah falsche Buchungen. Fehler, die ihm, dem Pedanten, noch nie unterlaufen waren. Jedem anderen Mitarbeiter hätte er angesichts eines solchen Fehlverhaltens fristlos gekündigt. Und sich selbst?
Mit zitternden Fingern öffnete er die oberste Schreibtischschublade. Er tastete nach einer Schachtel, die er seit einiger Zeit dort versteckt hatte. Wo steckte sie nur? Dieters Bewegungen wurden hektischer. Er durchwühlte den Inhalt der Schublade, bis er das Objekt der Begierde doch noch fand. In der hintersten Ecke. Gut verborgen vor neugierigen Blicken. Er drückte zwei Tabletten aus dem Blister. Wog sie in der Hand. Ach was, eine dritte konnte nicht schaden! Er griff nach dem Glas Wasser und spülte sie mit einem kräftigen Schluck hinunter. Dann wartete er. Inzwischen wusste er, dass er ein bisschen Geduld haben musste, bis sich sein Herzschlag beruhigte. Sich die Welt um ihn herum langsamer drehte. Geduld war keine seiner Stärken. Doch das Warten lohnte sich. Auch das hatte Dieter Fuchs inzwischen gelernt. Er wusste, dass das Rauschen in seinen Ohren gleich nachlassen, der Schweiß auf seiner Stirn trocknen würde. Endlich war es so weit. Er freute sich über die Kühle auf seinen Wangen. Aber warum wurde es immer kälter? So kalt, dass er zu zittern begann. Er wollte aufstehen, doch seine Beine zitterten auch. Er wollte nach dem Telefonhörer greifen, um seine Assistentin Regina Kampe nebenan anzurufen. Und griff immer wieder daneben. Deshalb öffnete Dieter Fuchs den Mund.
Obwohl Regina nur ein paar Meter weiter saß, hörte sie ihren Chef nicht. Sie starrte auf den Bildschirm. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Jetzt war es also so weit!
Regina Kampe stand auf. Strich den Rock glatt und ordnete die Frisur. Sie nahm allen Mut zusammen und marschierte auf die Tür des Chefbüros zu. Ein kurzes Klopfen. Sie drückte die Klinke herunter.
»Chef, Dr. Beckmann vom Trägerverein bittet um ein persönliches Gespräch. Sind Sie mit dem …« Mitten im Satz hielt sie inne. Ihr Atem stockte. Ihr Schrei hallte bis hinaus auf den Flur.
*
»Wie eine Gänsemama mit ihren Jungen«, spottete Schwester Josepha und sah Dr. Matthias Weigand und seiner Gefolgschaft nach, die auf dem Weg zur Visite waren. Sie hatte nur Glück, dass er im Begriff war, seine Aufgaben zu verteilen und deshalb nicht auf die beiden Lästerschwestern an der Ecke achtete.
»Dr. Gruber, Sie sprechen mit Frau Baader. Ich möchte ihre Überbein-Operation auf morgen verschieben. Oder nein«, revidierte er seine Entscheidung einen Atemzug später. »Sophie, du übernimmst das.«
»Ich?«
Matthias Weigand blieb stehen und drehte sich um.
»Warum nicht du?«
»Weil ich diese Gespräche immer führen muss. Und weil ich sie hasse.«
Matthias lächelte seine Verlobte an. Er wusste, dass er mit Argusaugen beobachtet wurde. Ein Krankenhaus war ein Moloch aus Klatsch und Tratsch. Da bildete die Behnisch-Klinik keine Ausnahme. Es würde schnell die Runde machen, wenn er Sophie wegen ihrer privaten Beziehung bevorzugt behandelte. Ungerecht durfte er aber auch nicht sein. Es war ein beständiger Drahtseilakt. Ehrlich gesagt war er froh, wenn sie endlich ihren Facharzt hatte. Dann würden sich ihre Arbeitsfelder nur noch hin und wieder berühren. Aus seiner Sicht ein klarer Vorteil. Sein Lächeln wurde tiefer.
»Genau deswegen musst du diese Situationen üben. Immerhin bist du bald Fachärztin.« Er zwinkerte Sophie zu und setzte seinen Weg fort.
Das Fußgetrappel hinter ihm zeugte davon, dass ihm seine Küken folgten. Matthias straffte die Schultern und grüßte lächelnd einen entgegenkommenden Kollegen.
Noch vor ein paar Monaten wären Sophie und er sich in so einer Situation an die Gurgel gegangen. Doch sie hatten sich beide geändert. Er wusste, unter welcher Anspannung sie stand. War bereit, seine Liebe über seinen Ärger zu stellen. Sie verstand, dass sie nicht jedes Mal einen Streit vom Zaun brechen konnte, wenn er den Vorgesetzten gab. Zumindest war es das, was Matthias dachte.
Sophie dagegen dampfte vor Zorn.
»Na warte! Heute Nachmittag habe ich meine Prüfung. Dann kann er diese Gespräche selbst führen.«
Ihr Kollege Benjamin Gruber eilte mit wehendem Kittel neben ihr her.
»Aber was, wenn du nicht bestehst? Immerhin bist du erst seit ein paar Wochen wieder in der Klinik.«
»Natürlich bestehe ich.« Wenn Blicke töten könnten, wäre Benjamin in diesem Augenblick umgefallen. »Glaubst du etwa, ich habe im vergangenen halben Jahr nur den Babysitter für meine Tochter gespielt?«
Diese Vorstellung brachte Benjamin zum Lachen.
»Nein, du hast recht. Wahrscheinlich war Matthias der Babysitter, während du die Fachbücher auswendig gelernt hast.«
Es hatte ein Scherz sein sollen. Doch Benjamin hatte dir Rechnung ohne den Wirt gemacht.
»Was soll denn das schon wieder heißen? Du denkst also, dass ich eine Bestie bin, die ihren Mann unter dem Pantoffel hält?«, fauchte Sophie wie eine wütende Katze und bog bei der nächstbesten Gelegenheit rechts ab, während der Rest ihrer Kollegen weiter geradeaus ging.
*
Wo Eva Tuck auftauchte, erregte sie Aufmerksamkeit, von der sie selbst aber offenbar keine Notiz nahm.
Als hätte sie nie etwas anderes getan, schob sie den Rollstuhl mit ihrem Mann darin über den Klinikflur. Dr. Aydin blieb stehen und sah ihr nach.
»Ich werde eine Eingabe beim Klinikchef machen. Wir brauchen eine neue Schwesterntracht.«
Sein Kollege Arnold Klaiber konnte nur den Kopf schütteln.
»Lieber nicht. Dann verdoppelt sich die Anzahl unserer Herzinfarktpatienten sprunghaft.«
»Aber dann bekommen die Herren am Ende ihrer Tage noch ein Mal etwas Hübsches zu Gesicht.«
»Ansichtssache.« Klaiber winkte seinen Kollegen mit sich. Und auch Eva hatte ihr Ziel erreicht.
Sie half ihrem Mann vom Rollstuhl ins Bett.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass es dir so schlecht geht?«
»Soll ich eine junge, schöne Frau wie dich mit meinem Altmännerkram belästigen?« Stöhnend ließ sich Manni in die Kissen fallen.
Eva setzte sich auf die Bettkante und streichelte ihrem Mann über die Wange.
»Ich mag es nicht, wenn du so redest. Du bist mein kluger Mann, mein Beschützer. Du hast für alles eine Lösung, wenn ich längst nicht mehr weiterweiß.«
Manfred schüttelte den Kopf und murmelte Unverständliches, das nicht gerade nach Zustimmung klang. Laut sagte er:
»Was hätte das denn gebracht? Wir