nächsten überzugehen. Latinus war sich darüber im Klaren, dass das Unausgesprochene zurückkehren musste, allein schon deswegen, weil es immer mal wieder jemanden gab, der etwas dazu sagte. Naiv. Unbekümmert. Vielleicht ein wenig dumm. Solche Leute gab es.
»Wir müssen noch einmal über die Rolle von Teotihuacán reden«, sagte der Erzkanzler nun. »Ich höre eher unangenehme Neuigkeiten von unserem Freund Metzli.«
»Er ist unser Freund«, bestätigte Latinus. »Ist er doch?«
»Er ist vor allem sein eigener Freund«, sagte Xi bitter. »Aber er möchte jetzt auch Luftschiffe.« Der General sah in die Runde. »Was sollen wir ihm sagen?«
»Ist es eine offizielle Anfrage?«, fragte Latinus.
»Noch nicht. Eher ein Vorfühlen. Unsere Botschaft in Mutal hat bereits mehrfach entsprechende Dossiers gefunkt. Ach ja …« Xi verzog das Gesicht. »Kurzwellensender will er auch. Eigene. Mindestens ein Dutzend, für alle wichtigen Städte.«
Latinus unterdrückte ein Seufzen, mehr oder weniger offensichtlich. Metzli wollte so einiges. Es waren keine absurden Forderungen, nichts, was sich nicht logisch aus ihrer Situation ergab. Aber dennoch. Dennoch …
»Ist er bündnistreu? Gibt es Hinweise darauf, dass er mit dem Feind konferiert?«, fragte er dann. Er bekam natürlich seine eigenen Dossiers, aber es schadete nicht, deren Wahrheitsgehalt mit dem abzugleichen, was die Chinesen dachten.
»Es gibt keine offensichtlichen Hinweise«, sagte der Erzkanzler. »Aber er ist gewitzt – nein, verschlagen – und sehr selbstbewusst. Ich habe die größten Befürchtungen. Was werden Sie Ihrem Imperator empfehlen, Latinus?«
»Meine Ansichten sind zweitrangig. Ich werde allein die offizielle Haltung des chinesischen Hofes weitergeben.«
Xuan sah Xi an. »Was ist unsere offizielle Haltung, General?«
Sie fingen an, das Für und Wider abzuwägen. Es wurde eine lange Besprechung und sie kamen zu keinem Ergebnis.
3
Yun-Suk Choi nahm einen tiefen Schluck, spürte, wie die brennende Flüssigkeit seine Kehle hinabrann, spürte die sich wohlig ausbreitende Wärme in seinem Magen und die dahinterstehende Lüge. Der starke Branntwein versprach so einiges: Entspannung, etwas Wohlbefinden, eine Erleichterung der drückenden Sorgen und Fragen, ein Vergessen der drängenden Pflichten, ein Trüben der schwierigen Erinnerungen und das Gefühl, dass Ungewissheit doch gar nicht so schlimm war, denn im Grunde war sowieso alles egal.
Und wenn man trank, wurde es am egalsten.
Der Gedanke daran, dass er sich mit dem Trinken also nur selbst betrog, motivierte ihn dazu, sofort einen zweiten Schluck zu nehmen. Der Reisschnaps war ordentlich gebrannt, ein Produkt seiner Heimat, das er gerne zu sich nahm, manchmal vielleicht zu gerne. Der Betrug, den ihm der Alkohol versprach, war immerhin ehrlich: Choi wusste, welche Konsequenzen der Schnapskonsum hatte und wie weit er damit gehen konnte. Es gab da keinerlei doppelte Böden oder Verstecke. Es war, wie es war.
Ein dritter Schluck. So langsam kam zu der Wärme ein wenig von dem hinzu, was er von diesem Getränk erwartete: die sanfte Andeutung von Leichtigkeit in seinem Kopf. Er war noch nicht betrunken, nicht einmal etwas beschwipst, und würde man ihn jetzt mit einer Aufgabe betrauen, so würde er sie einigermaßen bewältigen können. Aber er war am Rande der Trunkenheit, ging den schmalen Grat entlang, der das klare Denken und Handeln von der sanften, anheimelnden Trägheit verschwommener Seligkeit trennte. Er hielt inne, betrachtete die Flasche. Es war eine neue, frisch angebrochen, und es war sein dienstfreier Abend. Sie zu leeren und dann ins Bett zu fallen, war seine Freiheit, eine der wenigen, die er genoss. Sich ihr zu ergeben, enthob ihn von der Notwendigkeit, anderen Ideen nachzuhängen oder sich allzu sehr mit seiner Frustration zu beschäftigen.
Er hielt inne, als er die Flasche wieder ansetzen wollte.
Er schaute aus dem Fenster. Hier im Norden Baekyes war es mittlerweile empfindlich kalt geworden, der Winter hatte sich ausgebreitet, der Frost hielt den Boden, die Bäume und anderen Pflanzen, die Tiere umklammert. Schnee fiel in regelmäßigen Abständen, manchmal als Sturm, und des Nachts kämpfte das Feuer in den Kohleöfen mit großer Hartnäckigkeit gegen die eisige Umarmung an. Der Außenposten hatte siebzehn Soldaten, deren Kommandant Choi war, ein Posten, den er seit sechs Monaten innehatte.
Das war kein Zufall. Er war für diese Position von zu hohem Rang und überqualifiziert. Er war vielfach versetzt worden, nachdem er das Lager verlassen hatte. Ein Jahr kämpfte er an der Front in Indien, eine Zeit, an die er sich nicht gerne zurückerinnerte. Ein Jahr ging er auf die Akademie für weitere Kurse, diese bestand er mit Auszeichnung. Er verstand nicht, wohin seine Karriere ging. Ging sie überhaupt noch in eine bestimmte Richtung oder drehte er sich nur im Kreis? Wollte er eigentlich, dass sie nach vorne und nach oben strebte? Seit seiner Zeit im Umerziehungslager verstand er so manches nicht mehr. Wachten jene, die sich, tief im Inneren des Systems versteckt, gegen den Großen und Geliebten Marschall verbündet hatten, über seine Schritte? Halfen sie ihm oder schadeten sie, prüften sie ihn oder hatten sie keine Verwendung? Choi war die letzten beiden Jahre mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gegangen und sein Widerstandswille gegen das System, für das er zu kämpfen einen Eid geschworen hatte, war eher noch gewachsen. Doch es gab für ihn keine Möglichkeit, diesen Willen in Aktion umzusetzen, ohne sich selbst sofort zu gefährden und dabei gleichzeitig absolut nichts zu bewirken.
Sinnlose Jahre. Eine verlorene Zeit. Er fühlte sich hin und her getrieben. Er versah seinen Dienst ohne Richtung, ohne Elan, erfüllte seine Pflicht, eckte nirgends an, akzeptierte klaglos seine Befehle. Seine Akte war seit jenem Vorfall einwandfrei, sein Verhalten makellos. Dass er manchmal nachts aufwachte und einen tiefen Schmerz in seinem Herzen fand, als er an jene Frau dachte, deren Leidenschaft ihn damals gefangen hatte, akzeptierte er. Bedauern, ein wenig Sehnsucht, jetzt alles langsam bedeckt durch Schnee und Eis. In den Bergen war es immer kalt und sein Dienst hier war sinnlos. Die siebzehn Soldaten, die ihm unterstellt waren, ein Unteroffizier, sechzehn Mannschaftsgrade, waren allesamt strafversetzt, die letzten beiden erst vor einem Monat eingetroffen. Sie hatten ein Verhalten an den Tag gelegt, das keine richtige Bestrafung erforderlich machte, mit Laufbahnen, die immer nur ganz knapp an der Grenze zur Straffälligkeit, zur disziplinarischen Maßnahme verliefen, aber eben so, dass sie als unzuverlässig galten. Hier, in der Wildnis, umgeben von wenigen Bergbauern, unwegsamem Gelände, ohne jede Aussicht auf Feindkontakt, schadeten sie niemandem, erledigten ihren sinnlosen Dienst, waren aus dem Weg. Vielleicht hofften die Vorgesetzten im Stillen, sie würden hier etwas anstellen, damit man sie richtig bestrafen konnte.
Doch hier gab es nichts, mit dem man etwas anstellen konnte.
Hier gab es rein gar nichts.
Sie saßen im einfachen Gebäude mit seinem Schlafsaal, dem windigen Aussichtsturm, der Vorratskammer, dem Gemeinschaftsraum mit der einfachen Küche. Einmal im Monat kam ein Karren mit Vorräten, hin und wieder brachten die Bauern aus der Gegend etwas, mehr als Bestechung, um bloß in Ruhe gelassen zu werden – ein Gefallen, den man ihnen gerne tat, wenn es dafür frische Milch und Käse gab, Winterkimchi dazu, lange im Erdboden vergraben und gut durchgegoren, ein Fest für die Sinne und eine willkommene kulinarische Freude in dieser Gegend der eiskalten Untätigkeit.
Jemand betrat den Raum, gähnte laut, um sich bemerkbar zu machen. Chois Blick wanderte vom Fenster zum Neuankömmling.
»Schnaps? Wir haben doch gerade erst gefrühstückt.«
Kamgung war der einzige Unteroffizier der Truppe, ein Veteran von fast 50 Jahren, der nicht nur einiges gesehen, sondern auch von vielem die Schnauze gestrichen voll hatte. Das war gewiss ein Grund dafür, dass er hierher versetzt worden war. Er erzählte nicht viel über seine Karriere, aber irgendwann hatte Choi herausgekitzelt – und der Schnaps hatte dabei geholfen –, dass der ältere Mann nicht immer die Menschen, die seine Vorgesetzten gerne tot gesehen hätten, auch getötet hatte, vor allem dann nicht, wenn diese keine Waffe auf ihn gerichtet hatten.
Offiziell war er damit im Recht. Inoffiziell aber war der Befehl eines Vorgesetzten Gesetz, egal aus welchen niedrigen Beweggründen er geäußert wurde. Und