hatte ich als verliebter Tölpel diese verräterische Zeile geschrieben!
»So! Du liebst Gretchen?« fuhr mein Onkel in echtem Vormünderton fort.
»Ja … Nein …«, stotterte ich.
»Du liebst also Gretchen!« wiederholte er maschinenmäßig. »Nun, wenden wir mein Verfahren auf das fragliche Dokument an.«
Mein Onkel war schon wieder in das Nachsinnen, welches ihn ganz in Anspruch nahm, versunken, dass er bereits meine unvorsichtigen Worte vergaß. Ich sage unvorsichtigen, denn der Kopf des Gelehrten konnte die Herzensangelegenheiten nicht begreifen. Aber zum Glück hatte die große Angelegenheit des Dokuments das Übergewicht.
Im Begriff, seinen Hauptversuch zu machen, sprühten des Professors Augen Blitze durch seine Brille hindurch. Mit zitternden Händen nahm er das alte Pergament wieder zur Hand. Er war von ernster Bewegung ergriffen. Endlich hustete er tüchtig und diktierte mir mit würdigem Ton, indem er der Reihe nach zuerst den ersten Buchstaben, dann den zweiten jedes Wortes zusammennahm, die folgenden Gruppen:
mmessunkaSenrA.icefdoK.segnittamurtn
ecertserrette,rotaivsadua, ednecsedsadne
lacartnllluJsiratracSarbmutabiledmek
meretarcsilucolsleffenSnl
Als ich sie fertig hatte, war ich, offen gestanden in Gemütsbewegung. In diesen Buchstaben hatte ich gar keinen Sinn zu erkennen vermocht; ich war also darauf gespannt, des Professors Lippen würden stattlich eine Phrase prachtvollen Lateins hören lassen.
Aber wer hätte das gedacht! ein heftiger Faustschlag erschütterte den Tisch, dass die Tinte emporspritzte, die Feder meinen Händen entfiel.
»Das ist’s nicht!« schrie mein Onkel, »das hat keinen Sinn!« Darauf stürzte er rasch wie eine Kugel durch das Kabinett, wie eine Lawine die Treppe hinab, auf die Königstraße und entfloh aus Leibeskräften.
Viertes Kapitel
»Er ist fort«, rief Martha, die herbeigelaufen kam, als er die Haustür so heftig zuschlug, dass von dem Schmettern das ganze Haus erschüttert wurde.
»Ja«, erwiderte ich, »ganz und gar fort!«
»Nun! Und sein Mittagessen?« sagte die alte Dienerin.
»Er wird nicht zu Mittag speisen!«
»Und sein Abendessen?«
»Er wird auch nicht zu Abend speisen!«
»Wie?« sagte Martha und rang die Hände.
»Nein, gute Martha, er wird nicht mehr essen, und niemand im ganzen Hause. Mein Onkel lässt uns alle fasten, bis es ihm gelingt, ein altes Gekritzel, das durchaus unleserlich ist, zu entziffern!«
»Jesus! So bleibt uns also nichts, als Hungers sterben.«
Ich getraute nicht, einzugestehen, dass bei einem so unbedingten Mann, wie meinem Onkel, dies uns unvermeidlich bevorstehe.
Ernstlich beunruhigt begab sich die alte Dienerin mit Seufzen in ihre Küche zurück.
Als ich allein war, kam mir der Gedanke, zu Gretchen zu eilen und ihr alles zu erzählen. Aber wie konnte ich das Haus verlassen? Der Professor konnte jeden Augenblick heimkommen. Und wenn er nach mir rief? Und wenn er seine Enträtselungsarbeit, die man dem alten Ödipus vergeblich vorgelegt haben würde, wieder anfangen wollte? Und was würde es geben, wenn ich auf sein Rufen nicht Antwort gebe?
Das Klügste war, zu bleiben. Eben hatte uns ein Mineralog aus Besancon eine Sammlung Klappersteine vom Kieselgeschlecht zugeschickt, welche zu klassifizieren waren. Ich machte mich an die Arbeit. Ich sonderte aus, machte Etiketten, ordnete in ihrem Glaskasten alle die hohlen Steine, worin kleine Kristalle eingeschlossen waren.
Aber diese Tätigkeit beschäftigte mich nicht völlig. Das alte Dokument machte mir in den Gedanken viel zu schaffen. Mein Kopf glühte, und eine unbestimmte Unruhe ergriff mich. Ich ahnte eine bevorstehende Katastrophe.
Nach Verlauf einer Stunde waren meine Klappersteine geordnet. Darauf wiegte ich mich in dem großen Lehnstuhl, den Kopf rückwärts, die Arme baumelnd. Ich zündete meine Pfeife an, deren lange krumme Röhre am Kopf mit dem Bild einer Nymphe geziert war, und ergötzte mich daran, die Fortschritte der Verkohlung zu beobachten, wodurch die Nymphe zu einer vollständigen Negerin geworden war. Von Zeit zu Zeit lauschte ich, ob sich nicht Tritte auf der Treppe vernehmen ließen. Nichts zu hören. Wo mochte mein Onkel eben sein? Ich sah ihn in Gedanken die schöne Allee der Altonaer Straße entlanglaufen, gestikulierend, mit kräftigem Arm die Kräuter zerschlagen, Disteln köpfen und die Schwäne in ihrem Frieden stören.
Wird er triumphierend oder entmutigt heimkommen? Sollte er das Geheimnis herausbekommen haben? So fragte ich mich und nahm maschinenmäßig das Blatt Papier in die Hand, worauf die von mir geschriebenen unverständlichen Zeilen sich befanden. Ich wiederholte:
»Was bedeutet dies?«
Ich versuchte die Buchstaben so zu gruppieren, dass sie Worte bildeten. Unmöglich. Man mochte sie zu zwei, drei, fünf oder sechs zusammenstellen, es kam durchaus nichts Verständliches heraus. Doch ließ sich aus dem vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Buchstaben das englische Wort »ice« bilden, aus dem vier-, fünf- und sechsundachtzigsten das Wort »sir«. Endlich erkannte ich mitten in dem Dokument auf der dreißigsten Zeile die lateinischen Wörter »rota«, »mutabile«, »ira«, »nec«, »atra«.
»Teufel«, dacht’ ich, »diese letzteren Wörter könnten wohl meinem Onkel Auskunft über die Sprache des Dokuments geben!« Und da sehe ich gar, auf der vierten Zeile noch das Wort »luco«, das einen »heiligen Hain« bedeutet. Zwar auf der dritten Zeile ist das Wort »tabiled« zu lesen, welches ganz hebräisch aussieht, und auf der letzten die Wörter »mer«, »arc«, »mère«, die rein französisch sind.
Darüber konnte man den Kopf verlieren: Vier verschiedene Sprachidiome in einer sinnlosen Phrase! In welchem Zusammenhang konnten die Wörter »Eis«, »Herr«, »Zorn«, »grausam«, »heiliger Hain«, »wechselnd«, »Mutter«, »Bogen«, »Meer« stehen? Das letzte und erste allein ließen sich leicht aneinanderreihen, es wäre nicht zu verwundern, wenn