on>
Jules Verne
20.000 Meilen unterm Meer
Das geheimnisvolle Unterwasserschiff
erkundet die Merkwürdigkeiten fremder Meere
Saga
20.000 Meilen unterm MeerOriginal: Vingt mille lieues sous les mers
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1869-1870, 2020 Jules Verne und SAGA Egmont
All rights reserved
ISBN: 9788726642865
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Erstes Kapitel
Es muß wohl ein Einhorn sein
Meine Zeitgenossen werden sich noch deutlich jener merkwürdigen Naturerscheinungen erinnern, über die im Jahre 1866 so überstürzende Gerüchte umliefen. Besonders die Bevölkerung der Hafenstädte wurde damals beunruhigt, und bei allen Seeleuten, bei den Kaufleuten und Reedern, den Schiffsherren, Patronen und Kapitänen in Europa und in Amerika gab es viel Aufruhr. Die Offiziere der Kriegsmarine und die Staatsregierungen aller Staaten widmeten der Sache ein besonderes Interesse.
Die Berichte lauteten dahin, daß einzelne Schiffe seit einiger Zeit einem unerklärlichen und nicht genau zu beschreibenden Gegenstand begegneten: spindelförmig, lang, zuweilen phosphoreszierend und unendlich viel größer und geschwinder als ein Walfisch.
Überall war das Ungeheuer Tagesgespräch; in den Cafés, in den Journalen, ja sogar in den Theatern. Die Enten bekamen eine hübsche Gelegenheit, Eier in allen Farben zu legen. Die Journale gaben in Abbildungen alle riesenmäßigen Phantasiebilder zum Besten, vom weißen Walfisch, dem erschrecklichen „Moby-Dick“ der Hyperboreerländer bis zum maßlosen Kraken, der mit seinen Fühlhörnern ein Fahrzeug von fünfhundert Tonnen umwickeln und in den Abgrund des Ozeans hinabziehen kann.
Am 13. April 1867 fuhr die „Scotia“ unter 15° 12’ Länge und 45° 37’ Breite, bei ruhigem Meer und günstigem Wind mit einer Schnelligkeit von dreizehn Knoten und vollkommen regelmäßiger Radbewegung. Am Abend, als die Passagiere eben im großen Salon bei der Tafel saßen, verspürte man einen kaum merkbaren Stoß. Er schien so leicht, daß kein Mensch an Bord beunruhigt wurde, bis die Leute des Schiffsraumes mit Geschrei aufs Verdeck stürzten: „Wir gehen unter!“
Augenblicklich bemächtigte sich der Passagiere eine ungeheure Panik; aber Kapitän Anderson konnte sie beruhigen. Tatsächlich konnte die Gefahr nicht bedeutend werden, da die „Scotia“ durch wasserdichte Verschläge in sieben Abteilungen geteilt war, so daß sie leicht einem Eindringen des Wassers standhalten konnte. Der Kapitän begab sich sofort in den Schiffsraum und stellte fest, daß das Wasser in das fünfte Gefach durch ein beträchtliches Leck eindrang. Zum Glück befanden sich die Kessel nicht darin, sonst wären die Feuer mit einem Male ausgelöscht worden.
Der Kapitän ließ sogleich halten, ein Matrose tauchte unter, um den Schaden zu untersuchen, und es fand sich ein zwei Meter breites Loch im Kiel. So konnte die Scotia nur mit halber Schnelligkeit weiterfahren und kam um drei Tage verspätet in Liverpool an.
Bei der Ausbesserung stellte man einen regelmäßigen Riß in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks fest. Der Bruch des Eisenblechs zeigte, daß der durchbohrende Gegenstand ausnehmend hart gewesen sein mußte; auch mußte er, nachdem er mit enormer Gewalt eingedrungen war, sich wieder durch eigene Bewegung, in unerklärbarer Weise herausgezogen haben.
Dieses Ereignis setzte die öffentliche Meinung in leidenschaftliche Erregung. Von nun an wurden Unfälle zur See, deren Ursache man nicht kannte, auf Rechnung des Ungeheuers gesetzt, und dem phantastischen Tier wurden alle Schiffbrüche dieser Art zugeschrieben.
Da nun, mit Recht oder Unrecht, die Beschuldigung sich erhob, daß der Verkehr in gefährlicher Weise gestört sei, so verlangte das Publikum aufs entschiedenste, die Meere endlich um jeden Preis von dem fürchterlichen Ungetüm zu befreien.
Zur Zeit dieser Ereignisse kam ich von einer wissenschaftlichen Untersuchungsreise, der mich die französische Regierung als Professor der Naturgeschichte zugeteilt hatte, aus Nebraska in den Vereinigten Staaten zurück. Gegen Ende März kam ich nach sechsmonatigem Aufenthalt in Nebraska mit kostbaren Sammlungen in New York an, und meine Abreise nach Frankreich war auf Anfang Mai festgesetzt. Ich beschäftigte mich eben damit, inzwischen meine mineralogischen, botanischen und zoologischen Schätze zu ordnen, als sich der Unfall der „Scotia“ ereignete.
Bei meiner Ankunft in New York war dieses Ereignis hochaktuell. Die Hypothese einer schwimmenden Insel, einer unerreichbaren Klippe, die von einigen urteilslosen Köpfen aufgebracht worden war, hatte man bereits aufgegeben. Wie sollte denn auch solch eine Klippe, sofern sie nicht eine Maschine im Leib hatte, so reißend schnell die Stelle wechseln?
Ebenso wurde der Gedanke an einen umherschwimmenden Schiffsrumpf aus dem gleichen Grunde aufgegeben.
Es blieben also noch zwei mögliche Lösungen der Frage, die beide Anhänger fanden: Die einen hielten den Gegenstand für ein Ungeheuer von kolossaler Kraft; die anderen für ein unterseeisches Fahrzeug von außerordentlicher Beweglichkeit.
Man erwies mir die Ehre, mich über die fragliche Erscheinung zu befragen. Ich hatte in Frankreich einen zweibändigen Quartanten unter dem Titel: „Die Geheimnisse der großen unterseeischen Tiefe“ erscheinen lassen. Dieses besonders von der gelehrten Welt gut aufgenommene Buch machte aus mir einen Spezialisten in diesem noch ziemlich unbekannten Gebiet der Naturwissenschaft. Bald mußte ich, aufs Äußerste gedrängt, mich kategorisch erklären. Und der „ehrenwerte Pierre Arronax, Professor am Museum zu Paris“, wurde sogar vom New-York-Harald öffentlich aufgefordert, irgendeine Ansicht über die Sache zu formulieren.
Ich machte mich daran. Ich sprach, weil ich nicht mehr schweigen konnte.
Bis auf weitere Informationen handelte es sich meiner Vermutung nach um ein See-Einhorn von kolossalen Dimensionen, das mit einem wirklichen Sporn bewaffnet ist, wie ihn die Panzerfregatten haben, denen es etwa an Umfang und Bewegungskraft gleich käme.
Das Meer ist gerade das beste Element, der einzige Ort, wo solche Riesen — neben denen die Elefanten und Rhinozerosse nur Zwerge sind — entstehen und sich entwickeln können! Die Massen des Ozeans enthalten die größten Gattungen bekannter Seesäugetiere, und vielleicht bergen sie in ihren Tiefen noch manche Mollusken und Schaltiere von erschrecklichem Aussehen. Vormals, in der Urzeit, waren die Landtiere, Vierfüßler, Reptilien und Vögel von riesenhafter Form. Warum sollte nicht das Meer, das sich unveränderlich gleich bleibt, in seinen unbekannten Tiefen noch solche Überreste eines anderen Zeitalters bewahrt haben? Warum sollte es nicht in seinem Schoße die letzten Arten solcher Riesengattungen bergen?
Doch wenden wir uns aus dem Reiche der Phantasie der bösen Wirklichkeit zu. Die öffentliche Meinung sprach sich damals ohne Widerspruch für die Existenz eines wunderhaften Riesentieres aus.
Aber sofern die einen nur eine wissenschaftliche Aufgabe darin erkannten, wollten die anderen, mehr positiven Geister, zumal in Amerika und England, das Meer von dem furchtbaren Ungeheuer säubern, um den überseeischen Verkehr zu sichern. Die industriellen und Handelsblätter behandelten die Frage hauptsächlich von diesem Gesichtspunkt aus; alle den Assekuranz-Gesellschaften ergebenen Blätter waren darin einer Meinung.
Nachdem die öffentliche Meinung sich ausgesprochen, erklärten sich die Vereinigten Staaten zuerst. Man traf in New York Vorkehrungen für eine Expedition zur Verfolgung des Narwals. Eine schnellsegelnde Fregatte, „Abraham Lincoln“, wurde instand gesetzt, unverzüglich in See zu stechen. Dem Kommandanten Farragut wurden die Arsenale geöffnet,