Simone Frieling

Sophie Scholl


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der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialische Weise ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann.« Im vorletzten Aufruf an alle Deutsche! wird die Bevölkerung regelrecht gewarnt: »Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist?« Die Studenten gehen also davon aus, dass die Deutschen Kenntnis von den Verbrechen an den Juden haben.

      Das Verfassen und Verbreiten von Flugblättern als einziges Mittel, eine Diktatur zu stürzen, ist einmalig. Den jungen Menschen steht nur das Wort als Waffe zur Verfügung, Gewaltanwendung und andere Aktionen lehnen sie ab. Ihre Worte aber müssen in den Ohren der Nationalsozialisten wie Donnerschläge geklungen haben. Denn sie nehmen sich heraus, Hitler einen »Lügner«, einen »Dilettanten« zu nennen, seine Minister als »Verbrecher« zu bezeichnen, die Regierungsform als eine »verabscheuungswürdige Tyrannis« zu kritisieren. Parteibonzen sind für die Verfasser nichts weiter als »Mordbuben«, die zur »blinden, stupiden Führergefolgschaft« aufrufen. »Darum trennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschtum!« Auf den Fassaden der Münchner Universität und anderen Häusern sind die Inschriften zu lesen: »Nieder mit Hitler«, »Hitler der Massenmörder« und »Freiheit«.

      Zu ihrer Art des Widerstands gibt Sophie Scholl im zweiten Verhör zu Protokoll: »Ich war mir ohne Weiteres im Klaren darüber, dass unser Vorgehen darauf abgestellt war, die heutige Staatsform zu beseitigen und dieses Ziel durch geeignete Propaganda in breiten Schichten der Bevölkerung zu erreichen«.

      Auch sie spricht wie Goebbels von ›Propaganda‹, vielleicht gedankenlos, denn nicht in einem der sechs Flugblätter der Weißen Rose ist eine bewusste Verdrehung von Tatsachen vorgenommen worden, eine Übertreibung oder Unwahrhaftigkeit zu finden. Es gibt keine Formulierung, die mit unredlichen Mitteln Gefühle beim Leser hervorruft. »Mein Bruder und ich haben vollkommen aus ideellen Gründen gehandelt«, gibt Sophie weiter zu Protokoll.

      Goebbels hingegen täuscht seinen Zuhörern Gefühle vor, die er nicht hat. Er erinnert sein Publikum an die Veranstaltung vom 30. Januar zum »Zehnjahrestag der Machtergreifung«, die mit dem Höhepunkt der Krise an der Ostfront zusammenfiel. Goebbels, der Umjubelte, von Leibwächtern Beschützte, tut so, als berühre ihn das Schicksal der »letzten heldenhaften Kämpfer von Stalingrad«, die »in dieser Stunde durch die Ätherwellen mit uns verbunden« waren und »an unserer erhebenden Sportpalastkundgebung teilgenommen haben. Sie funkten«, dass sie »vielleicht zum letzten Male in ihrem Leben mit uns zusammen mit erhobenen Händen die Nationalhymne gesungen hätten«. Der Minister für Volksaufklärung schreckt nicht davor zurück, die zum Sterben verurteilten Soldaten für seine persönlichen Zwecke zu benutzen – eine sehr moderne, kalte Art des Umgangs, der ohne die neuen Kommunikationsmittel nicht zu denken ist. Goebbels ist ein Meister darin, Medien wie Film und Rundfunk für sich zu nutzen; der studierte Germanist liebt es, vor großem Publikum Reden zu halten, Aufsätze und Artikel zu schreiben, die in hohen Auflagen gedruckt werden. Er will möglichst alle Deutschen mit seiner Propaganda erreichen.

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      Im weiteren Verlauf seiner Rede lobt er die Haltung des »deutschen Soldatentums«, spricht von einer »großen Zeit«, aus der die Verpflichtung erwachse, weiter zu kämpfen. Er mahnt: »Stalingrad war und ist der große Alarmruf des Schicksals an die deutsche Nation«. Er versichert: »Ein Volk, das die Stärke besitzt, ein solches Unglück zu ertragen und auch zu überwinden, ja, daraus noch zusätzliche Kraft zu schöpfen, ist unbesiegbar.«

      Ganz besonders gefällt sich Goebbels in der Rolle des Redners, dem »viele Millionen Menschen« heute Abend »an der Front und in der Heimat« zuhören. »Ich möchte zu Ihnen allen aus tiefstem Herzen zum tiefsten Herzen sprechen. Ich glaube, das ganze deutsche Volk ist mit heißer Leidenschaft bei der Sache, die ich Ihnen heute Abend vorzutragen habe. Ich will deshalb meine Ausführungen auch mit dem ganzen heiligen Ernst und dem offenen Freimut, den die Stunde von uns erfordert, ausstatten. Das im Nationalsozialismus erzogene, geschulte und disziplinierte deutsche Volk kann die volle Wahrheit vertragen.«

      »Das große Heldenopfer« in Stalingrad »war nicht umsonst«, prahlt Goebbels: »Warum, das wird die Zukunft beweisen!« Zum Ende seiner Rede tut er so, als könne er für die ganze Nation sprechen: »Die Nation ist zu allem bereit. Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung. Wir sehen ihn greifbar nahe vor uns liegen; wir müssen nur zufassen. Wir müssen nur die Entschlusskraft aufbringen, alles andere seinem Dienst unterzuordnen. Das ist das Gebot der Stunde. Und darum lautet die Parole: Nun Volk steh’ auf und Sturm brich los!«

      Beglückt notiert Goebbels am 5. März 1943: »Meine Maßnahmen bezüglich des totalen Krieges werden vom Führer vollauf gebilligt. Er lässt sich in diesem Zusammenhang auf das Schmeichelhafteste für mich über meine Sportpalast-Rede aus, die er als ein psychologisches und propagandistisches Meisterwerk bezeichnet. Er habe sie von Anfang bis zu Ende aufmerksam durchstudiert, auch das Auslandsecho gelesen, und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass wir hiermit einen Hauptschlager gelandet hätten. Er ist von der Wirkung geradezu begeistert.«

      Dass sein Meisterwerk einer perfekten Inszenierung ein Blendwerk ist, stürzt einen Mann wie Goebbels keineswegs in Gewissensnöte. Zu seiner Zweideutigkeit gehört, dass er für die, die ihm glauben und zujubeln, nur Verachtung übrig hat. Er selbst und Hitlers Kabinett sind schon am 4. Februar 1943 vom Sicherheitsdienst der SS darüber informiert worden, dass die Allgemeinheit der Überzeugung sei, »dass Stalingrad einen Wendepunkt des Krieges bedeute und die labileren Volksgenossen sind geneigt, im Fall von Stalingrad den Anfang vom Ende zu sehen«. Sogar unter überzeugten Nazis kommen Zweifel an einem ›Endsieg‹ auf.

      Für Goebbels, der zwei Jahre später seine sechs Kinder umbringen lässt und sich anschließend mit seiner Frau zusammen das Leben nimmt, hat jetzt seine politische Karriere einen höheren Wert als das unendliche Leid von Millionen deutschen Soldaten und Zivilisten. Seine Sportpalast-Rede verschafft ihm zwar nicht die gewünschte Machtstellung, auch seine Forderung nach einer vollständigen Ausrichtung der Wirtschaft, der gesamten Gesellschaft und der Politik auf den Krieg kann nur teilweise umgesetzt werden. Zwar erreicht die Zahl der Menschen, die in der Rüstungsindustrie beschäftigt sind, durch Goebbels’ Drängen im Oktober 1944 mit über 6,2 Millionen einen Höchststand, aber der Krieg ist dennoch nicht mehr zu gewinnen. Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht erfolgt am 8. Mai 1945 um 23 Uhr.

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      SIE WAREN BEREIT, MIT ALLEM ZU BEZAHLEN, WAS SIE HATTEN

       Der Prozess

      In den letzten fünf Tagen ihres Lebens wird Sophie Scholl mit niemandem so viel Zeit verbringen, niemandem mehr Einblick in ihre Persönlichkeit gewähren oder verweigern als Robert Mohr. Er ist der Leiter der Sonderkommission in München, die dafür zuständig ist, die Herkunft der Flugblätter zu ermitteln. Insgesamt sind etwa achtzig bis hundert Personen mit dieser Aufgabe betraut. Auch wenn die Auflage der Flugblätter nur insgesamt fünfzehntausend Stück beträgt und damit im Vergleich zu den Propagandamitteln, die dem Nazi-Regime zu Verfügung stehen, verschwindend klein ist, erregt die Aktion in der »Hauptstadt der Bewegung« doch »Beunruhigung bis in höchste Parteikreise«.

      Robert Mohr, dem überzeugten Nationalsozialisten, ist der Ernst der Lage sofort bewusst, als er in die Ludwig-Maximilians-Universität gerufen wird. Er trifft gegen 11 Uhr im Rektoratsbüro ein und sieht »auf einem kleinen Tisch Flugblätter der bekannten Art angehäuft. Im gleichen Zimmer befanden sich ein junges Fräulein und ein junger Herr, die mir als die vermutlichen Verbreiter der Flugblätter bezeichnet wurden. Beide, vor allem das Fräulein, machten einen absolut ruhigen Eindruck und legitimierten sich schließlich durch Vorzeigen ihrer Studenten-Ausweise als Geschwisterpaar Sophie und Hans Scholl«.

      Wie selbstverständlich gehörte das Foltern der Gefangenen zu den Methoden der Gestapo-Beamten, um vor allem die Namen weiterer Mittäter und Mitwisser