Lise Gast

Die unsichtbaren Fäden


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und stimmte ein wenig daran herum, und schon waren sie alle zusammen in einem der Lieder, die jeder kennt, der jung ist oder mit der Jugend lebt. Es wurde ein stimmstarker, bemerkenswert einiger Chor, und jeder erbat sich eins seiner Lieblingslieder. Richard schmunzelte, wenn er die Singenden ansah. Und nun wurde der Aufbruch der Gäste immer wieder hinausgeschoben.

      Schließlich aber war es doch soweit.

      »Wir kommen auf dem Rückweg wieder vorbei, ein wenig länger als diesmal, wenn wir dürfen«, sagte Eve, als sie schon im Auto saß, und es klang so ehrlich und herzlich, daß Bess alle geheimen Vorbehalte über Bord warf. »Über Nacht, wenn es euch recht ist, damit wir einen langen Abend haben. Können wir tatsächlich bei euch übernachten, zu so vielen? Sonst gehen wir ins Hotel.«

      »Nein, ihr bleibt bei uns, das ist doch klar. Also bis dann. Ich freu mich. Ihr kommt bestimmt!«

      Sie wollten nach Italien. Bess winkte und wandte sich dann dem Haus zu; sie hakte sich bei Richard ein.

      »Nun war es doch noch ein harmonischer Nachmittag. Glaubst du, daß sie kommen?«

      »Die kommen, darauf kannst du dich verlassen.« Richard lachte leise in sich hinein. »Ich käme übrigens auch. Du hast eine Art, es Gästen hübsch zu machen, die unwiderstehlich ist.«

      »Ach, Löwenherz! Ich hab halt gern Besuch. Und Eve ist wahrhaftig nicht zu beneiden. Da gönnt man ihr alles Gute. Hoffentlich gelingt ihr die Reise. Es ist nicht einfach, mit drei so verschiedenartigen Kindern unterwegs zu sein. Aber ich denke es mir schön.«

      »Möchtest du auch mal nach Italien?«

      Bess schüttelte den Kopf. Zu einer gemeinsamen großen Reise mit den Kindern hatte es nie gereicht. »Am liebsten bin ich hier. In unserem alten Haus mit der gräßlich steilen Treppe.« Das Haus war nicht als Pfarre gebaut, und Bess hatte recht, es unpraktisch zu nennen. »Bei dir«, setzte sie ganz schnell hinzu, verschämt, sehr zärtlich.

      »Obwohl ich genauso bin wie das Haus: gräßlich, zum Ärgern, und viel zu groß für solch eine Winzperson wie dich. Stimmt’s?«

      »Bin ich wirklich so winzig?« fragte Bess sofort. Eve war groß und schlank, und Bess beneidete alle großen und schlanken Frauen um ihre Figur.

      »Puderwinzig klein. Und wenn du nicht so klein wärst . . .« Er brach ab.

      »Dann?« fragte Bess atemlos.

      »Dann hätt ich dich nur halb so gern.« Weg war er. Seiner Massigkeit zum Trotz konnte er behende sein wie ein Wiesel.

      Bess lachte. Und als sie dann den Tisch abräumte, das Tablett über den Flur schleppte und die Tür mit dem Knie hinter sich zustieß, sang sie vor sich hin, ohne es zu wissen.

      Im Spätsommer gab es viel zu tun, viel zu bedenken, viel zu organisieren. Das Semester fing zwar erst im Oktober an, aber Krister fuhr schon jetzt nach Hamburg, wo er Biochemie studierte; dort war es ihm gelungen, einen Laborplatz zu bekommen. Martin blieb in seiner Lehrstelle, er arbeitete in einer Buchhandlung in Göttingen. Hans, der nach dem Abitur seine Militärzeit als Sanitäter abgeleistet hatte, wollte in Erlangen anfangen; er hatte sich zur Theologie entschlossen und würde zunächst bei Bekannten seines Vaters wohnen, bis er ein Zimmer fand. Er brach gleichzeitig mit Krister auf. Vaters Freund in Erlangen hatte ihm einen interessanten Ferienjob vermittelt.

      Bess war sehr verwundert, als Martin eines Tages ihr und Richard verkündete, er hätte die Budenwirtschaft satt und habe sich ein Auto gekauft. Er werde täglich zur Arbeit fahren und zu Hause wohnen. Die Aussicht, den Sohn wieder daheim zu haben in der zweifellos kritischen Zeit, in der die Kinder sich vom Elternhaus zu lösen pflegen, beglückte Bess so sehr, daß sie nicht verstand, wie unwillig Richard darauf reagierte.

      »Natürlich kann er sich diese alte Schleuder kaufen, wenn er sie selbst bezahlt, dazu braucht er unsere Erlaubnis nicht«, sagte Richard. Martins VW zeichnete sich nicht gerade durch übergroße Modernität aus. »Aber der nächste Winter kommt bestimmt, wie uns die Kohlenhändler so klar vor Augen führen. Na, und im Winter damit auf der Straße liegen – danke schön. Außerdem hätte er vorher mit mir sprechen können, statt mich vor vollendete Tatsachen zu stellen. Vielleicht sogar dich fragen, ob es dir recht ist, daß er wieder zu Hause wohnt.«

      »Warum soll es mir denn nicht recht sein?« Bess war ehrlich verblüfft. »Es ist doch selbstverständlich, daß er zu Hause wohnen kann.«

      »So. Immer. Immer ist es dir selbstverständlich, wenn sie etwas von dir verlangen.« Richard war so heftig, wie es sonst nicht seine Art war.

      Bess schwieg betroffen.

      Gerade kam die Kindergärtnerin, um etwas zu fragen. Sie war ein nettes junges Mädchen, und Richard widmete sich ihr. Bess ging hinaus in den Garten und sprach mit dem alten Mann, der ihr bei den schwereren Arbeiten half, einem Rentner, dessen Gehör nachzulassen begann. Sie nahm Richards Verstimmung nicht allzu ernst. Vermutlich verstand er seine Heftigkeit selbst nicht mehr.

      Bess lief umher und versuchte, die mannigfaltige Arbeit zu bewältigen. Um diese Zeit gab es viel Zusätzliches: Die Wintersachen der Familie sollten durchgesehen und ergänzt werden, Krister und Hans mußte sie einige Kleidungsstücke nachschicken, vielerlei am und im Haus war zu richten. Die Apfelbäume trugen in diesem Jahr schwer. Obst ist eine Gabe Gottes, und Bess erinnerte sich der Zeiten, da eine Handvoll davon ein Vermögen bedeutete. In Süddeutschland vermostete man die Äpfel, hier wurden sie eingekocht, und das brauchte Zeit.

      Bess setzte sich an den Gartentisch in die milde Sonne, um Äpfel zu schneiden, und dabei stellte sie sich vor, wie hübsch es wäre, eine Tochter neben sich zu haben, die ihr dabei half. So eine wie Friederike. Daß diese Tochter gar nicht hier säße, sondern in der Schule wäre, jedenfalls vormittags, und nachmittags ihre Schularbeiten machte oder lieber schwimmen ginge, vermutlich in männlicher Begleitung, das fiel ihr nicht ein.

      Gleich darauf erschien eine Gastarbeiterfrau, eine Griechin, mit ihrem Kind, das sie trotz des warmen Tages dick in ein Wolltuch eingewickelt auf dem Arm trug. Es war krebsrot und schrie.

      Bess betrachtete es mitleidig.

      Diese Frau Zapkeni hatte Vertrauen zu ihr gefaßt, seit Bess einmal alle Griechinnen, Türkinnen und Italienerinnen, die im Dorf lebten, mit ihren Kindern zu einem Gartenfest eingeladen hatte. Lange hatte sie überlegt, was man miteinander treiben könne, ohne die Sprache zu beherrschen, vom Topfschlagen bis zum Wurstschnappen und den Ballspielen. Richard konnte an dem Tag nicht dabeisein, also mußte es Bess allein schaffen. Hans hatte ihr dann geholfen. Ihn darum zu bitten, wagte sie nicht; wie manchmal kam er jedoch später von selbst, scharte die kleineren Jungen um sich und begann, mit ihnen Kreisball im Sitzen zu spielen. Da ging es lustig zu, und man hörte lautes Kreischen in verschiedenen Sprachen, auch mal ein deutsches Schimpfwort dazwischen.

      Die Kinder saßen im Kreis auf dem Rasen und mußten einander einen Ball zuwerfen, ohne daß einer, der in der Mitte stand, ihn erwischte. Hans ging zuerst selbst in die Mitte, er warf sich wie ein Torwart hinter dem Ball her, überschlug sich, kugelte zwischen den erst ein wenig verdutzt dreinschauenden kleinen Murillos herum und steckte sie allmählich mit seinem Eifer an. Den größten Erfolg aber hatte Richard, der nach einiger Zeit heimkam und sogleich in den Garten ging, um nachzuschauen, wie die Sache lief. Er bat, in den Kreis zu dürfen, und die Jungen klatschten Beifall. Sie wurden aber enttäuscht, wenn sie gehofft hatten, der »Herr Farr« würde sich recht blamieren. Richard hatte früher viel Handball gespielt, er sprang und reckte sich im Sprung, und binnen kurzem hatte er den Ball erwischt, so daß ein anderer in den Kreis mußte. Die kleinen Mädchen, die inzwischen von Bess beschäftigt worden waren, verloren das Interesse und drängten sich zu den Jungen. Zuletzt war alles ein wildes Getobe, sogar ein paar südländische Mütter taten mit. Bess war hinterher zerrauft, erhitzt und sehr glücklich. Sie verabschiedete jede Mutter und jedes Kind mit Handschlag und Namen.

      »Und wie schön manche Namen klingen! Evangelia und Romeo und Petros und Antigone – wenn sie auch Antigónne ausgesprochen wird«, sagte sie und lachte erschöpft. »Ja, auch die eigenen Eltern sprechen diesen klassischen Namen unklassisch aus, ich hab aufgepaßt. Fehlt nur eine Penelópe.«

      Frau