Manfred in eine Schnitte Brot. »Es müssen doch nicht alle Leute mithören, was wir beide miteinander reden.«
»Sieh dich doch um, Manfred. Wir sind ganz allein hier. Kein Mensch kann uns hören. Mir scheint, du bist völlig verwirrt.«
Manfred Brecht schaute sich um und mußte feststellen, daß Marga recht hatte. Niemand befand sich mehr im Speisesaal.
»Ich glaube, ich habe eine Tochter«, bekannte er unvermittelt.
»Du spinnst«, antwortete Marga ziemlich respektlos auf seine Eröffnung.
»Ich dachte mir, daß du das sagst. Das habe ich zuerst auch geglaubt. Aber dann habe ich es mir genau überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß meine Vermutung gar nicht so abwegig ist. In dem Kinderheim, wo dein Sohn lebt, ist auch ein kleines Mädchen namens Agnes untergebracht. Sie ist ein bezauberndes Ding, und seltsamerweise habe ich das Mädchen sofort ins Herz geschlossen, obwohl ich sonst kein ausgesprochener Kinderfreund bin, das wirst du bezeugen können.«
Die Frau nickte und nippte an ihrem Schwarztee. »Ja, das stimmt, denn sonst hätte ich Peter wahrscheinlich mitgenommen.«
»Jedenfalls hat dieses Mädchen mich die ganze Nacht beschäftigt, so daß ich kaum zum Schlafen gekommen bin. Es hat blaue Augen und schwarze Locken, und zum Abschied hat die Kleine mir sogar einen Kuß gegeben, obwohl sie mich doch kaum kennt.«
»Und das ist alles? Oh, Manfred, nicht jedes Kind, das dir zum Abschied einen Kuß gibt, ist dein Kind.« Marga holte tief Luft und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
»Nein, natürlich nicht. Aber Agnes ist... sie heißt mit Nachnamen Müller. Und Gisela, du weißt doch, die Frau auf dem Bild, sie heißt auch Müller, oder besser, sie hieß so, denn Agnes’ Mutter ist tot.«
»Noch weißt du nicht genau, ob diese Agnes das Kind der Frau ist, die du gekannt hast«, versuchte die Frau ihm diese fixe Idee auszureden. »Aber wenn du es wirklich glaubst, dann gibt es einen ganz einfachen Weg, um es festzustellen. Du gehst einfach zu Frau von Schoenecker, das ist die Verwalterin des Kinderheims. Sie hat mir übrigens gestern auch sehr geholfen.«
»Ach, darum bist du so glücklich heute morgen?« Manfred füllte seine Tasse schon zum dritten Mal mit heißem, dampfendem Kaffee.
»Ja, deshalb auch. Frau von Schoenecker hat mir nämlich gesagt, daß diese Frau, die wir zusammen mit Volker gesehen haben, gar nicht seine Freundin sein kann. Sie hat nämlich erst vor kurzem ihren Verlobten verloren und noch gar keinen Sinn für eine neue Liebe. So hat es mir Frau von Schoenecker jedenfalls gesagt, und ich glaube ihr.«
»Das... das kannst du auch. Sabine ist nämlich ein ganz bezauberndes Mädchen«, stimmte ihr Manfred zu, und seine Augen schauten verträumt irgendwohin.
»Manfred!« Marga verschränkte die Arme ineinander und schaute den Freund entgeistert an. »Du bist ja verliebt. So kenne ich dich gar nicht.«
Aus weiter Ferne kehrten seine Gedanken zurück. »Ich bin ein Idiot, das wolltest du doch sagen, stimmt’s.«
»Nein, das stimmt nicht«, begehrte Marga auf. »Für was hältst du mich eigentlich? Mich hat es doch selbst erwischt.«
Manfred lachte bitter. »Und in wen hast du dich verschaut? Hoffentlich nicht wieder in mich.«
»Danke.« Marga ärgerte sich zwar, aber in Anbetracht der vergangenen Nacht konnte sie ihm nicht böse sein. »Du bist nicht gerade ein Kavalier. Trotzdem will ich dir sagen, wer dieses Mal mein Opfer ist, nämlich mein eigener Mann.«
Das Glücksgefühl in Margas Herzen war unbeschreiblich, als sie daran dachte, wie schön es gewesen war, in Volkers Armen zu liegen. Er hatte sie spät am Abend, als er Sophienlust verließ, schlafend auf der Bank gefunden. Dann hatte er sie zum Gasthaus gebracht, in dem sie ihr Zimmer hatte, und Marga hatte ihm auf seine vorsichtigen Fragen hin gestanden, daß ihre Beziehung zu Manfred Brecht nur eine Verblendung gewesen war.
Nur eines hatte Volker nicht getan, er hatte sie nicht gefragt, ob sie wieder zu ihm zurückkehren wolle. Das war der einzige Wermutstropfen in einem Meer von Glückseligkeit.
»Jetzt braucht ihr euch sicher nicht mehr scheiden zu lassen, wenn ich deinen entrückten Gesichtsausdruck richtig deute«, stellte Manfred fest, denn er hatte anscheinend ihre heimlichen Gedanken erraten.
»Ich weiß es nicht«, gestand Marga und stellte die Kaffeetassen zusammen, damit sie nur noch von der Wirtin geholt werden mußten. Sie merkte, wie sehr ihr die Hausarbeit in letzter Zeit gefehlt hatte. »Heute nachmittag werden wir uns wieder in Sophienlust treffen. Volker hat sich einen halben Tag frei genommen, und dann werden wir über unsere Zukunft sprechen«, sagte Marga hoffnungsvoll.
Sie sehnte sich nach ihrem Heim und nach einem intakten Familienleben, sie konnte es gar nicht erwarten. Selbst wollte sie den Vorschlag nicht machen, da hätte sie sich zu sehr geschämt. Außerdem hatte sie nicht vor, sich Volker aufzudrängen, denn es war bestimmt nicht einfach für ihn, sie nach allem, was gewesen war, wieder mit offenen Armen aufzunehmen und so zu tun, als wäre nichts geschehen.
»Ich fahre dich, Marga. Dann kann ich gleich mit dieser Frau von... wie sagtest du?«
»Frau von Schoenecker heißt sie, und sie ist eine ganz reizende Person, so verständnisvoll und hilfsbereit. Ich bin sicher, daß es die Kinder bei ihr gut haben.«
So kam es, daß zwei Menschen dem Nachmittag entgegenfieberten, denn er sollte entscheidend sein für ihr weiteres Leben.
Und noch einer schaute mindestens jede Viertelstunde auf die Uhr. Volker Eckstein hatte sich in einer schlaflosen Nacht zu einer Entscheidung durchgerungen. Er wußte, daß es für ihn nicht gerade leicht werden würde, die Vergangenheit zu vergessen. Aber er wußte, daß er es mit Margas Hilfe schaffen konnte.
*
Denise von Schoenecker war erstaunt, als ihr Schwester Regine einen Besucher meldete, der sie dringend wegen eines Kindes, das in Sophienlust lebte, zu sprechen wünschte.
Sofort legte sie den Aktenordner, den sie gerade nach wichtigen Unterlagen hatte durchsuchen wollen, zur Seite und schaute erwartungsvoll zur Tür, als Manfred Brecht etwas verlegen eintrat.
»Guten Tag, Herr Brecht.« Die schöne Frau reichte dem Mann ihre Hand, die dieser sofort ergriff. Auch er konnte sich der Ausstrahlung Denises nicht entziehen und mußte Marga insgeheim recht geben. Die Verwalterin war wirklich eine außergewöhnliche Frau.
»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie störe, Frau von Schoenecker, aber Marga, ich meine, Frau Eckstein, riet mir, Sie aufzusuchen.«
»Und um was geht es? Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Denise deutete auf einen schlanken, fast zierlichen Stuhl, der gegenüber ihres Schreibtisches stand.
Manfred setzte sich und schaute sich interessiert um. Das Biedermeierzimmer war stilecht eingerichtet, stellte er fest. »Bei Ihnen lebt ein kleines Mädchen namens Agnes Müller. Ich habe sie gestern kennengelernt.«
»Ja, unsere Agnes ist ein liebes Kind. Sie hatte es bisher nicht leicht in ihrem jungen Leben. Vor etwa drei Monaten ist ihre Mutter gestorben, und den Vater hat sie nie kennengelernt.«
»Ich... ich weiß, meine Frage wird Ihnen wahrscheinlich seltsam vorkommen, aber bitte, sagen Sie mir, wie die Mutter der Kleinen mit Vornamen hieß. Es ist sehr wichtig für mich.«
Denise merkte, wie aufgeregt der Mann war, und diese Nervosität übertrug sich auch auf sie. Manfred Brecht trug irgendein Geheimnis mit sich herum, und sie war sich sicher, daß sie es in den nächsten Minuten erfahren würde.
Die Frau sollte sich nicht getäuscht haben. Denise holte den dünnen Schnellhefter, der Agnes’ wenige Unterlagen enthielt wie Geburtsurkunde, Taufschein und noch ein paar andere amtliche Papiere. Außerdem lag noch ein Brief dabei, den die Mutter wenige Tage vor ihrem Tod an ihr kleines Töchterchen geschrieben hatte. Er sollte Agnes erst an ihrem achtzehnten Geburtstag ausgehändigt werden.
»Sie hieß Gisela Müller«, gab Denise die gewünschte Auskunft.«
»Also