Jürgen Bertram

Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen


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sie in die Luft, katapultiere sie mit dem Fuß, ohne dass sie den Boden berühren, wieder in die Höhe. Einmal, zweimal … siebenmal, dreizehn Mal. Dann versuche ich das Kunststück mit dem Knie. Zum Schluss gelingt es mir sogar, eine Beere mit der Hacke so gefühlvoll weiterzuleiten, dass ich sie mit dem Kopf auffangen und balancieren kann.

      Als mich mein Vater gleich im Flur bestraft, spule ich die Bilder von meinem Erlebnis im Teufelstal ab. Die Backpfeife rechts – klick: der Schuss. Die Backpfeife links – klick: das Tor. Die Kopfnuss – klick: der Jubel. Im Wohnzimmer haben sich, wie so oft am Sonntag, die Kriegskameraden meines Vaters versammelt – der »schöne Erich«, der »dicke Otto«, der »schlaue Willi«. Auf dem Tisch stehen Bierflaschen und Teller voller hoch mit Zwiebeln beschichteter Mettbrötchen. »Na, das gibt vielleicht ein Konzert heute Nacht im Schlafzimmer«, sagt mein Vater. Der schöne Erich sagt: »Zwiebeln sind doch noch gar nichts. Was meinst du, wie du nach Bohnen trompeten kannst! Jedes Böhnchen ein Tönchen.« Der schlaue Willi sagt: »Wenn’s Arschl brummt, ist’s Herz gesund.« Der dicke Otto sagt: »Darauf kannst du einen lassen.«

      Der schöne Erich reicht meiner Mutter einen Zehnmarkschein. Er fragt: »Kannst du den wechseln?« »Nein, kann ich nicht.« – »Ach, ich dachte, du bist in den Wechseljahren.« Mein Vater holt die Packung mit den Kyriazi-Zigaretten aus dem Schrank. Kyriazi gibt es nur am Sonntag. Und auch nur, wenn die Kriegskameraden zu Besuch sind. Gold Dollar oder Ernte 23, die alltags geraucht werden, sind rund und stehen senkrecht in der Schachtel. Kyriazi sind oval und ruhen waagerecht in einem Bett aus Silberpapier. Aus Ägypten kommt der Tabak. Auch König Faruk soll ihn schätzen.

      Westfront. Ostfront. Smolensk. Iwan. Dünkirchen. Perpignan. Polacken. Panzerfaust. Zum hundertsten Mal höre ich diese Namen, diese Begriffe. Aber nur mit Perpignan kann ich etwas anfangen. In Perpignan, in Südfrankreich liegt das wohl, ist den Soldaten ein Hund zugelaufen, ein Mischling. Und Major Jenner, der alte Jenner, hat es ihnen erlaubt, den Hund zu behalten und mit ihm von Etappe zu Etappe zu ziehen. Zum Obergefreiten haben sie Lumpi Heiligabend zweiundvierzig befördert.

      Mein Vater nimmt seine Gitarre von der Wand und setzt sie sich vorsichtig auf sein Knie. Die Gitarre hat es besser als ich. Die Männer singen.

      Alle Tage ist kein Sonntag,

      Alle Tag gibt’s keinen Wein,

      Aber du sollst alle Tage

      Recht lieb zu mir sein.

      Und wenn ich einst tot bin,

      Sollst du denken an mich,

      Auch am Abend, eh’ du einschläfst

      Aber weinen darfst du nicht.

      Der dicke Otto sagt: »Im Osten hatten die Flüchtlinge nicht mal das Schwarze unter den Fingernägeln. Und hier werden sie plötzlich alle zu Großgrundbesitzern.« Bei uns zu Hause hat man den pensionierten Volksschullehrer Josef Mainka einquartiert. Aus Hirschberg stammt er. In Oberschlesien liegt das. In »Schläsien-Obber«, wie mein Vater sich ausdrückt.

      Das Bilderbuch, das mir Herr Mainka geschenkt hat, handelt von Rübezahl, einem Berggeist, der, einen knorrigen Stab umklammernd, durch die schwarzen Wälder des Riesengebirges stapft. Mit seiner in Lumpen gehüllten, gewaltigen Gestalt flößt er mir Angst ein. Nachts träume ich manchmal von Rübezahl. In der Nacht nach dem Fußballspiel im Teufelstal träume ich von dem Schuss, dem Tor, dem Jubel.

      2 Glückauf-Kampfbahn

      1947. Durch das Teufelstal röhren, als hätten sich dort tausend brünftige Hirsche versammelt, schwere Maschinen. Ihre Räder gleiten auf Ketten, und sie machen selbst die sperrigsten Erdhügel platt. Planierraupen heißen sie. Der »Tommy«, wie man in Bad Grund die englischen Besatzer nennt, hilft dem SV Viktoria mit dem Gerät aus. Ein richtiger Fußballplatz soll aus dem Acker werden, auf dem der Ball so wild hin und her springt, dass er mir voriges Jahr fast ins Gesicht geklatscht wäre. Von einem Schulkameraden, dessen Vater beim SV Viktoria spielt, weiß ich, dass der Tommy dem Verein auch Fußbälle geschenkt hat, Bälle mit Blase und Schnüren. Einfetten muss man die nach jedem Spiel.

      Der Tommy hat den »Ami« abgelöst, der am 9. Mai fünfundvierzig vom Kelchtal her in Bad Grund einmarschierte. Zwei Männer vom Volkssturm, erzählt der schöne Erich, haben aus einem Fenster des Rathauses noch ihre Gewehre leergeballert. »Aber gebracht hat das nichts mehr.«

      Mein Vater hasst den Ami. In Remagen am Rhein hat er ihn fünfundvierzig für ein paar Wochen in einem Lager festgehalten. Hinter Stacheldraht. Bei Maisbrot und einer so dünnen Suppe, »dass du bis auf den Grund gucken konntest«. Wenn der Ami in Bad Grund Sport trieb, behaupten die Leute, zog er die Grenzlinien auf dem Platz mit Mehl. Und wir, schimpfen die Leute noch immer, hatten nichts zu beißen.

      Wenn wir zu Hause nichts mehr zu beißen hatten, lief ich mit meiner Mutter die sechs Kilometer zum Bauern nach Münchehof. Sie nahm mich an die Hand, manchmal auch auf die Schulter. Sie bot dem Bauern den Schnaps an, den mein Vater zusammen mit dem Polizeibeamten Jorzik in unserem Schlafzimmer aus Kartoffeln brannte, und der Bauer gab meiner Mutter ein paar Eier, hin und wieder auch eine Mettwurst dafür. Es kam aber auch vor, dass er uns ohne Eier und Wurst nach Bad Grund zurückschickte.

      Unterwegs pflückten wir uns Äpfel von den Straßenbäumen. Mondrunde, gelbgrüne, saftige Augustäpfel, in deren Gehäuse sich, wenn man hineinbiss, manchmal ein Wurm wand. Der Polizeibeamte Jorzik ist später mit seinem Auto verunglückt. An einem Bahnübergang zwischen Bad Grund und Wildemann. Er war sofort tot. Selbst schuld, sagt der schöne Erich.

      Ich hasse den Ami nicht. Obwohl er den Ort längst dem Tommy übergeben hat, versorgt er uns Volksschüler noch immer mit Milchsuppe, in der dicke Rosinen schwimmen. Auf dem Schulhof wird sie jeden Morgen aus einem großen Kessel ausgeschenkt. Quäkerspeise heißt sie. Als mir ein Klassenkamerad, den wir wegen seiner Stoppelhaare »Igel« nennen, in der großen Pause beim Fußballspielen immer wieder das Bein stellt, nehme ich vor Wut mein Kochgeschirr und schütte ihm den Rest der Rosinensuppe ins Gesicht.

      Mein Vater muss daraufhin zum Rektor. Zu Hause löst er sofort den Lederriemen aus dem Hosenbund und befiehlt mir, meinen Hintern frei zu machen und mich über die Sofalehne zu legen. Nicht mit der Schnalle, bete ich. Bitte, nicht mit der Schnalle!

      Die Schnalle trifft mich. Einmal, zweimal, dreimal … Ich denke an den Schuss, das Tor, den Jubel. Diesmal hilft es mir nicht. Die Schläge mit der Schnalle tun zu weh. Mein Vater, überlege ich abends im Bett, hasst den Ami. Aber wenn ich seine Rosinensuppe verschütte, hasst er mich.

      Mai 1950. In Bad Grund spricht man nur noch über einen Fußballverein: Schalke 04. Vom dicken Otto erfahre ich, dass er in einer Stadt namens Gelsenkirchen zu Hause ist und dass er schon sechsmal die Deutsche Meisterschaft gewann. Seine Stürmer Ernst Kuzorra und Fritz Szepan seien die Erfinder des Schalker Kreisels, des blitzschnellen, den Gegner lähmenden Kurzpassspiels. Und dieser in ganz Deutschland bekannte Klub hat sich bereiterklärt, zur Einweihung des neuen Platzes im Teufelstal nach Bad Grund zu kommen! Als Gegner wurde der SC Peine 48 verpflichtet, eine Spitzenelf aus der Amateuroberliga Niedersachsen.

      Am 18. Mai, dem Himmelfahrtstag, ist es endlich so weit. Ich bin einer von 8000 begeistert klatschenden Zuschauern, als die Mannschaften kurz vor 16 Uhr den Platz betreten – Peine in blauen Hosen und roten Hemden, Schalke in weißen Hosen und Hemden, die so blau sind wie der Himmel über dem Iberg. Cornelissen … Beverungen … Karla … Abramczik … Groß … Ernst Kuzorra und Fritz Szepan sind nicht dabei. Eine Reisemannschaft ist das, beklagt sich einer der Zuschauer in meiner Reihe. Kuzorra und Szepan, klärt ihn ein anderer Zuschauer auf, haben ihre Laufbahn doch gerade beendet.

      Mir ist es egal, ob Kuzorra und Szepan spielen oder nicht. Hauptsache, Schalke 04 spielt im Teufelstal. Schalke ist spitze. Peine ist spitze. Bad Grund ist spitze. Ich bin spitze. Schade, dass sich an diesem Nachmittag mein Vater nicht an meiner Seite befindet. Ob er mich beim ersten Schalker Tor wohl genauso in den Arm genommen hätte wie der alte Herr neben mir?

      Schalke 04 gewinnt 2 :1 – und hinterlässt dem SV Viktoria Bad Grund ein Geschenk. »Glück-auf-Kampfbahn« darf der Verein seinen neuen Platz nennen. Genauso heißt das Stadion, in dem die Gelsenkirchener Meistermannschaft