Jürgen Bertram

Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen


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im niedersächsischen Kreis Celle wurden am Dienstagmittag zum ersten Mal im britischen Besatzungsgebiet auch britische Napalmbomben abgeworfen, wie sie von den UNO-Streitkräften im Koreakrieg verwendet wurden. Vier derartige Bomben wurden von Düsenjägern in rasendem Tiefflug aus etwa zehn Metern Höhe ausgeklinkt. Nach einer dumpfen Detonation lösten sie für etwa drei Sekunden einen gewaltigen schwarzroten Feuerblitz aus, der etwa hundert Meter lang am Boden entlangschoss und eine verkohlte Fläche hinterließ.«

      Aus der Hauptstadt Bonn meldet die Zeitung: »Die Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik ist im Monat Juli um 84510 zurückgegangen. Damit lag Ende des Monats die Zahl der Arbeitslosen um 60000 unter dem Tiefstand des vergangenen Jahres. Die Gesamtarbeitslosenzahl betrug Ende Juli 1155456.«

      Die Kriegskameraden der »216. und 272. Infanteriedivision« treffen sich zur »Wiedersehensfeier«. Der Generaloberst Heinz Guderian, genannt der »schnelle Heinz«, hat seine Erinnerungen aufgeschrieben. »Er stand«, heißt es in einer Besprechung, »im ersten Teil des Ostfeldzugs bei seinem Offensivstoß auf Moskau an entscheidender, weil vorgeschobener Stelle als einer der Heerführer, der die Bedeutung der Panzerwaffe zeitig erkannt und zwischen den beiden Weltkriegen entscheidend auf- und ausgebaut und zu großen Erfolgen geführt hatte.«

      Im Anzeigenteil heißt es: »NIPA vernichtet todsicher Fliegen, Schnaken, Mücken und andere schädliche Insekten. Fliegentod aus den Sidolwerken Köln. 5 Streifen nur 25 Pfennig.« Im Odeon läuft der Heimatfilm »Der Bildschnitzer vom Walsertal«. Der Sportteil interessiert mich nicht an diesem Morgen. Die Amateuroberliga Niedersachsen-Ost hat Sommerpause.

      6. August 1952, mittags. Vor dem Haus Bergtal Nummer 8 parkt ein grünes Personenauto. »Polizei« steht in großen Buchstaben an der Seitentür. Auf dem Kiesweg, der zu unserer Veranda führt, begegne ich dem Chow-Chow der gnädigen Frau. Ich streichele ihn, lasse mir das Pfötchen geben, rede wirr auf ihn ein. Ich versuche, Zeit herauszuschinden – wie die Mannschaft von Goslar 08, wenn sie einen knappen Vorsprung über die Runden bringen will. Doch dann verliert der Chow-Chow der gnädigen Frau das Interesse an mir und verschwindet im Dunkel des Waldes, der an unser Grundstück grenzt. Stundenlang hält er sich dort manchmal auf. Ein Einzelgänger ist das, sagen die Leute.

      Auf unserer Veranda, die meine Mutter normalerweise jeden Morgen fegt, sieht es unordentlich aus, nicht »akkurat«, wie es mein Vater nennt. Neben dem Lederball, den sie mir zum Geburtstag schenkte, steht eine offene Tasche mit Tabletten, Spritzen, Verbandszeug. Auf einer dickbäuchigen Sauerstoffflasche liegt ein Strick. Ein Mann in einem weißen, durch ein rotes Kreuz gekennzeichneten Kittel rennt in Richtung Bergwerk. Er grüßt mich flüchtig und macht, wie der Halblinke Fritze Schröder nach einer verpassten Chance, eine wegwerfende Handbewegung. Vor der Tür zu unserer Stube nehmen mich zwei mir unbekannte Herren in Empfang. Sie seien von der Polizei, sagen sie. Sie müssten mir ein paar Fragen stellen. Das sei ihre Pflicht.

      »Wann hast du heute Morgen das Haus verlassen?«

      »Gegen acht.«

      »Wo warst du zwischen acht und ein Uhr mittags?«

      »In der Schule.«

      »Sonst nirgendwo?«

      »Sonst nirgendwo.«

      »Auch in der großen Pause nicht?«

      »Auch in der großen Pause nicht.«

      Der Polizist, der sich während der Befragung Notizen machte, schließt seine Kladde. »Keine Fremdeinwirkung«, sagt er zu seinem Kollegen. Dann legt er seine Hand auf meine Schulter – wie Torwart Macha nach dem Spiel gegen Tuspo Holzminden. »Na, mein Junge«, hatte Torwart Macha gesagt. Der Polizist sagt: »Tut mir leid, tut mir wirklich leid für deinen Vater und dich.« Danach wird es, obwohl draußen die Sonne strahlt, dunkel um mich; so dunkel, dass ich glaube, dass es nie wieder hell wird.

      Freitag, 8. August 1952. Die »Goslarsche Zeitung« kündigt für den Samstag ein Freundschaftsspiel zwischen Goslar 08 und dem VfB Kiel an. »Die Kieler«, heißt es, »gehören zur Spitzengruppe der sehr spielstarken Amateurliga Schleswig-Holsteins. Kurz vor der Sommerpause erreichten sie gegen die Oberliga des Hamburger SV ein beachtliches 2 : 2-Unentschieden.« Ich werde auf die Begegnung verzichten müssen. Genau für diesen Samstag ist die Beerdigung angesetzt. Ich trage jetzt eine schwarze Binde am Arm, einen Trauerflor. Erst nach einem Jahr, sagt mein Vater, darf ich ihn wieder abnehmen.

      Befiehl du deine Wege,

      Und was dein Herze kränkt,

      Der allertreusten Pflege

      Des, der den Himmel lenkt!

      Der Wolken, Luft und Winden

      Gibt Wege, Lauf und Bahn,

      Der wird auch Wege finden,

      Da dein Fuß gehen kann.

      In der Friedhofskapelle sitze ich neben meinem Vater in der ersten Reihe. Ich habe das Gefühl, dass alle Trauergäste auf mich starren: der schöne Erich, der dicke Otto, der schlaue Willi, die flotte Hilde … Während sie ihre Blicke auf mich richten, scheinen sie zu fragen: Warum weint er nicht? Ist ihm das alles egal? Ich kann nicht weinen. Jetzt nicht. Hier nicht. Nicht für euch. Mir fällt der Satz ein, den meine Mutter immer sagte, wenn ein Vorgang abgeschlossen war: Nun hat die liebe Seele Ruh. Und ich denke an Goslar 08, stelle mir vor, wie Torwart Macha und Mittelläufer Thielemann die Kieler Stürmer zur Verzweiflung bringen.

      Am späten Nachmittag frage ich meinen Vater, ob ich im Radio die Sportnachrichten hören kann. Er erlaubt es mir nicht. Wir sind ein Trauerhaus, sagt er. Und in einem Trauerhaus hört man kein Radio. Ich will wissen, wie Goslar 08 gegen Kiel gespielt hat. Ich muss es wissen. Meine Mutter würde das verstehen. Ich hetze die Rammelsberger Straße und die Breite Straße hinunter bis zum Tabakladen des Halbrechten Walter Sallier, der, wie die »Goslarsche Zeitung« schrieb, den Ball so perfekt beherrscht, dass er jederzeit in der Oberliga Nord spielen könnte. In seinem Schaufenster hängt, wie immer nach einem Spiel von Goslar 08, ein Zettel mit dem Ergebnis: 4 : 4. Nur 4 : 4. Was war mit Torwart Macha und Mittelläufer Thielemann los? »An Gottes Segen ist alles gelegen«, heißt es, in goldenen Buchstaben, an der Fassade des Fachwerkhauses schräg gegenüber von Walter Salliers Tabakladen.

      Dienstag, 12. August. In der »Goslarschen Zeitung« entdecke ich die »Danksagung«, die mein Vater verfasst hat. Sie beginnt mit einem Spruch: »Es ist bestimmt von Gottes Rat, dass man vom Liebsten, was man hat, muss scheiden.« Sie endet mit dem Namen meines Vaters, dem ein Zusatz folgt: »und Sohn«. Und Sohn? Warum hat er mich nicht bei meinem Vornamen genannt?

      Mein Sohn spurt noch nicht so, wie ich mir das wünsche … Mein Sohn wird in der Schule immer schlechter … Mein Sohn hat nur noch seinen Fußball im Kopf … Mein Sohn hat immer noch nicht begriffen, dass man sich mehrmals am Tag die Hände waschen muss. Vor dem Essen, nach dem Essen, Händewaschen nicht vergessen!

II

      9 Kopfrechnen

      Mein Vater: »Hiiiiii.«

      Ich: »Huuuuuu.«

      Er: »Haaaaaa.«

      Ich: »Hoooooo.«

      Er: »Heeeeee.«

      Mehr fällt uns nicht ein an den radiolosen Augustabenden, als im Wechsel diese langgezogenen Töne auszustoßen. Die Hirsche in den Harzwäldern geben, wenn sie sich verständigen wollen, ähnliche Laute von sich. Ich habe das Spiel erfunden, mit dem wir die grauenvolle Stille in unserem Wohnzimmer zu füllen versuchen. Fängt mein Vater, so die Regel, zum Beispiel mit dem Vokal »I« an, dann muss ich einen anderen Vokal, zum Beispiel ein »U« oder ein »O«, dagegensetzen. Reagiere ich mit einem »I«, also demselben Buchstaben, steht es 1:0 für meinen Vater.

      Meistens verliere ich das Spiel, weil ich mich viel zu oft auf die Stubentür konzentriere. Ach, würde sie sich doch öffnen und meine Mutter über ihre Schwelle treten. Aber meine Mutter erscheint nicht; natürlich nicht. Mein Vater legt während unseres Spiels immer mal wieder den Finger an seine Lippen. Pssst, bedeutet das. Wir dürfen die gnädige Frau nicht stören!

      Einmal