Solmaz Khorsand

Pathos


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Muster zurückgefallen sind. Plötzlich hatten sie wieder Tränen in den Augen, wenn Dinge nicht so liefen, wie sie es sich vorstellten.

      In der Eingewöhnungsphase, dem ersten Monat im Kindergarten, versucht Al-Mousli auf jedes Kind so stark wie nur möglich einzugehen, um jede Emotion richtig zu deuten. Doch bei mehreren Kindern gleichzeitig kommt auch sie an ihre Grenzen. Wen nimmt sie als Erstes in den Arm? Auf wessen Bedürfnis reagiert sie am schnellsten? Wessen Pathos lässt sie auf sich wirken?

      „Je weniger ein Kind kann und je hilfloser es ist, desto eher bekommt es meine Aufmerksamkeit“, erklärt sie. Hat sie einen brüllenden Einjährigen, wird sie den eher in den Arm nehmen und wiegen als das fünfjährige Mädchen trösten, das sprechen kann und im besten Fall Anschluss an die Gruppe der älteren Kinder findet. „Mir tut das dann wirklich leid und ich wünschte, dass ich die Kapazität hätte, diesem älteren Kind die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie den kleinen. Aber wenn die anderen dreimal so laut schreien und komplett die Nerven schmeißen, geht es nun einmal nicht“, sagt Al-Mousli.

      Aber woran bemisst sie das Ausmaß des individuellen Leides? Woran macht sie fest, dass Paul gerade die Nerven wegschmeißt und Emre seinen stillen Nervenzusammenbruch in der Ecke erlebt?

      Sesilia Al-Mousli verzieht den Mund. Sie lächelt fast verlegen. Die Antwort scheint sie selbst zu stören: „Es hängt schon davon ab, wie laut einer schreit.“

      Von hysterischen Frauen und stoischen Männern

      Wer brüllt, wird gehört. Wer lauter brüllt, umso mehr. Das sind die banalen Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie. Doch ist die Lautstärke nur ein Faktor. Wer konkret brüllt, ein anderer. Anna oder Paul? Paul oder Emre? Wessen Gebrüll wird am Ende ernst genommen? Gibt es auch hier eine Hierarchie?

      Die Wissenschaft sagt ja.

      Forscher der Yale und Georgia City University haben in einer Studie festgestellt, dass Erwachsene die Schmerzen von Kindern unterschiedlich bewerten. Verletzt sich ein Mädchen, hält sich die Empathie der Außenstehenden in Grenzen; tut es ein Junge, wird derselbe Schmerz plötzlich ernst genommen. In der Studie wurde Testpersonen ein Videoclip gezeigt, in dem einem Vorschulkind in den Finger gepiekst wird. Das Kind trägt ein rotes T-Shirt, kurze Sportshorts und hat die Haare tief ins Gesicht hängen. Es ist nicht zu erkennen, ob es sich dabei um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Die Studienautoren haben die Befragten, vorwiegend Frauen, in zwei Gruppen unterteilt. Einer Gruppe wurde gesagt, dass das Kind Samuel heißt, der anderen, sein Name wäre Samantha. „Samuels“ Schmerz wurde auf einer Skala mit 50,42 als schlimm bewertet, „Samanthas“ hingegen nur mit 45,9.12

      Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Wissenschafter der University of Sussex, als sie Erwachsenen die Schreie von Säuglingen vorgespielt haben. Wenn die Befragten – hier Männer – erfuhren, dass es sich bei den schreienden Babys um Buben handelt, hatten sie den Eindruck, die Babys würden ein größeres Martyrium erleben, als wenn ihnen gesagt wurde, dass es Mädchen seien.13

      Die Wissenschaft erklärt die Ergebnisse mit den antiquierten Gendervorstellungen unserer Gesellschaft. So besteht nach wie vor die Annahme, dass Buben so sozialisiert werden, dass sie ihr Leid stoisch ertragen, gar unterdrücken, während Mädchen ihre Schmerzen nicht nur ausdrücken dürfen, sondern sie sogar als eine Kommunikationsform nutzen sollen, um andere um Hilfe zu bitten. Daher geht man davon aus, dass Jungen an „echten“ Schmerzen leiden, wenn es dann einmal so weit ist, dass sie weinen. Deswegen seien sie besonders ernst zu nehmen. Weinende Mädchen hingegen seien „nur“ emotional und ihre Schmerzen daher „unecht“. Sie stellen mit ihren Tränen eine Manipulationstheatralik zur Schau, daher dürfen sie dementsprechend ignoriert werden.14

      Das heulende Mädchen, das nach Aufmerksamkeit heischt, dem in Wirklichkeit nichts fehlt, das man ruhig links liegen lassen kann – dieses Mädchen hat eine lange Geschichte.

      Das Mädchen ist besser bekannt als die „hysterische Frau“.

      Schon im alten Ägypten taucht sie auf. Damals erklärte man sich ihre Exzentrik mit sexueller Abstinenz. Eine hungrige Gebärmutter würde unbefriedigte Frauen in den Wahnsinn treiben.15 Auch in der Antike wurde der mentale Zustand einer Frau in ihrem Uterus lokalisiert. So sei hystera – das altgriechische Wort für Gebärmutter – laut Platon „ein Tier, das glühend nach Kindern verlangt. Bleibt dasselbe nach der Pubertät lange unfruchtbar, so erzürnt es sich, durchzieht den ganzen Körper, verstopft die Luftwege, hemmt die Atmung und drängt auf diese Weise den Körper in die größten Gefahren und erzeugt allerlei Krankheiten“16 wie etwa egozentrisches, labiles und ekstatisches Verhalten. Bis ins 17. Jahrhundert hielt sich die absurde Vorstellung von der hysterischen Frau, die besessen sei von ihrer wandernden Gebärmutter, einem nach Sperma lechzenden Tier, das sich aus lauter Hunger gar in ihrem Gehirn verbeißen würde.17

      Den Höhepunkt erlebte die hysterische Frau im 19. Jahrhundert, als Tausende Frauen mit Anfällen, Lähmungen und Halluzinationen in Krankenhäuser und Nervenheilanstalten eingeliefert wurden. Sie stellten die behandelnden Ärzte vor Rätsel. Die Männer konnten keine organischen Ursachen für die Zustände der Frauen feststellen. Mit allerlei Praktiken wurde experimentiert, mitunter auch mit Genitalverstümmelungen. So behauptete etwa im Jahr 1882 Nikolaus Friedreich, Ordinarius für Pathologie in Heidelberg, die Hysterie durch die Entfernung der Klitoris heilen zu können. Bis ins 20. Jahrhundert hielt die Medizin im Westen an der Klitoridektomie fest. Erst mit dem zunehmenden Erfolg der Psychoanalyse sah man davon ab.

      Eine nicht unerhebliche Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch der Kolonialismus, wie der Amerikanist Norbert Finzsch recherchierte. Die „‚Entdeckung‘ der Klitoridektomie unter den kolonialisierten Völkern vor allem Afrikas“ habe dazu beigetragen, von der plötzlich als barbarisch wahrgenommenen Praxis Abstand zu nehmen. Man wollte so die Überlegenheit der „zivilisierten weißen Rasse“ gegenüber den Kolonialisierten untermauern.18

      Heul doch – aber nur wie ein Mann

      Dank Freud und kolonialistischem Dünkel ist zwar die Genitalverstümmelung aus den Operationssälen der westlichen Hemisphäre verschwunden, die Vorstellung der hysterischen Frau hingegen nicht. Von ihr hat sich die Medizin bis heute nicht verabschiedet.

      Mit fatalen Folgen.

      Sätze wie „Das ist alles nur in Ihrem Kopf“ oder „Das bilden Sie sich nur ein“ hören Frauen immer wieder, wenn sie bei Beschwerden um Hilfe ansuchen.

      Frauen bekommen im Gegensatz zu Männern eher Beruhigungsmittel verabreicht als Schmerzmedikamente, wenn sie über Schmerzen klagen.19 Haben sie Bauchschmerzen, warten sie in der Notaufnahme der in Regel 65 Minuten, bis sie untersucht werden, Männer hingegen nur 49 Minuten.20

      Der Sexismus ist tief verankert in der Medizin. Wie in allen Bereichen der Gesellschaft, wird auch hier die halbe Weltbevölkerung systematisch ignoriert, wie die britische Journalistin Caroline Criado Perez dokumentiert. „Fast die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine große Datenlücke“, beginnt sie ihr Buch Invisible Women. Der Mann wird als Standard angenommen, an ihm wird getestet, von ihm werden Daten bis ins letzte Detail erhoben. Für ihn wird die Welt entworfen, egal ob das Klavier, Straßenzüge, Smartphones, Spracherkennungsprogramme, Sicherheitsgurte oder Medikamente.

      Alles ist abgestimmt auf den männlichen Körper.21

      Der Mann ist die Norm, die Frau nur eine Abweichung. Bis ins 17. Jahrhundert machten sich die Ärzte nicht einmal die Mühe, weibliche Organe extra zu benennen. So bezeichneten sie beispielsweise Eierstöcke schlichtweg nur als weibliche Hoden, bis europäische Wissenschafter genug Haie, Hasen und Raben seziert hatten, um den Unterschied der primären Geschlechtsmerkmale ausfindig zu machen.22

      Nun hat sich zwar die medizinische Semantik weiterentwickelt, die Praxis nicht unbedingt. Sie behandelt den weiblichen Körper nach wie vor als Anomalie. Egal ob beim Herzinfarkt oder beim Autismus, solange sich die Beschwerden einer Frau nicht exakt so zeigen wie die eines Mannes, gelten ihre Symptome als atypisch