dachte er. Mit geschultem Blick registrierte er, dass dies ursprünglich ein sehr effizientes Bewässerungssystem gewesen war. Die Neigung war klug gewählt, die Vernetzung auf maximalen Nutzen ausgelegt. Die Anlage war primitiv, aber ein Beispiel für eine gut durchdachte Ingenieursarbeit. Die Kolonisten hatten in dieser fordernden Umgebung alles optimal gestalten müssen, sonst hätte dieses Siedlungsprojekt niemals eine Chance gehabt.
»Hat ihnen nichts genützt«, murmelte Sofgart. Kolonien waren immer ein Risiko. Sogar auf Welten, die vermeintlich perfekt zu den Kolonisten passten, gab es jede Menge Haken. Vor allem die Dinge, die man nicht sofort sah oder messen konnte, machten vielen Besiedelungsvorhaben schnell einen Strich durch die Rechnung.
Sofgart erinnerte sich an Kroms Motto: Keine Welt wartet auf uns. Wer sich nicht arrangiert, wird aussortiert.
Diese Kolonisten waren aussortiert worden. Die Welt selbst war keineswegs tot – nur die Siedler.
In einiger Entfernung schwebte etwas in der Luft. Es war farbig, aber er erkannte es in Denebs Lichtflut nur undeutlich. Es alarmierte ihn. Möglicherweise hatte es mit dem Tod der Siedler zu tun. Erst nach dem Gedanken bemerkte er, dass er mit Überlebenden nicht rechnete. Was auch immer geschehen war – es hatte sich zu einer Todesfalle entwickelt. Er aktivierte die Sensoren seiner Schutzmontur, vor allem die Biokontrolle, und schaltete sie auf Höchstleistung.
Sofgart dachte an das, was er in dem recht übersichtlichen Dossier gelesen hatte. Die Träger dieses Projekts hatten genetische Reinheit präferiert. Ein logischer Widerspruch natürlich. Reinheit war kein taugliches Kriterium, um die Welt zu verstehen. Natur und Evolution machten Reinheit sogar unmöglich. Nur ein ausreichend großer Genpool war in der Lage den Druck auszugleichen, den ein fremder Planet ausübte – auf das Genom.
Je größer die Bandbreite, desto größer die Erfolgschancen, wusste Sofgart aus unzähligen Besprechungen, zu denen er Krom begleitet hatte. Arkoniden waren für elitäre Hirngespinste ebenfalls anfällig, eine zwangsläufige Folge ihrer feudalen Gesellschaftsordnung. Mehr als ein Khasurn hatte gehofft, mit dem eigenen, selbstverständlich weit überlegenen Erbgut, einen eigenen Kulturkreis zu schaffen.
Sie waren alle gescheitert, mehr oder weniger schmählich.
Sofgart grinste. Er kannte die Überheblichkeit der arkonidischen Oberschicht nur zu gut. Man hatte ihn stets spüren lassen, dass er eine Waise war, zudem nicht von Adel. Lange hatte er darunter gelitten, bis ihm Krom bewies, dass Abstammung vielleicht einen besseren Start ermöglichte, aber mehr auch nicht. Krom war der Beste seines Fachs gewesen, und Sofgart hatte die Chancen genutzt, die Krom ihm geboten hatte. Er war wie Krom selbst ein Essoya. Die Privilegien des Adels blieben ihnen beiden verschlossen. Aber längst störte ihn das nicht mehr.
Er sah erneut etwas in der Luft, eine Art Unschärfe, die er zunächst nicht erklären konnte. Vorsicht war also tatsächlich geboten, er verfügte kaum über Daten, die die Biosphäre beschrieben. Dieses Phänomen war ebenfalls farbenfroh.
Wieder flatterte etwas im Wind. Die Böen waren warm und nicht übermäßig stark, aber trocken. Sofgart änderte den Vergrößerungsfaktor seiner Schutzbrille.
Etliche fahnenartige Gebilde folgten dem Luftstrom, als habe jemand große Stofffetzen zum Trocknen aufgehängt. Allerdings wirkten sie sehr viel filigraner, luftiger als irgendein Gewebe. Sofgart hatte ähnliche Strukturen bei etlichen arachnoiden Lebensformen gesehen oder bei Seide spinnenden Raupen.
Sofgart hatte keine Zweifel: Das war eindeutig ein biologisches Phänomen. Fremdes Leben war unkalkulierbar. Er sah genauer hin und erhöhte nochmals die Vergrößerung. Auch am Boden erkannte er nun Flächen, die aussahen wie Flechten oder eben extrem dichte Spinnweben. Sie schimmerten in vielen giftigen Farben.
Besorgt aktivierte er den Verschlusszustand seiner Montur. Bisher hatte die Biokontrolle keine Gefahr angemessen, sonst hätte die Mikropositronik den Schutzanzug selbsttätig versiegelt. Offenbar wurden die Organismen nicht über die Luft transportiert – zumindest nicht über größere Strecken.
Sofgart näherte sich dem Phänomen nun vorsichtiger. Er entdeckte mehrere größere Teppiche, die aus Mikroben bestehen mochten, vielleicht aber auch Pilze oder Flechten waren. Aus der Distanz konnte er das nicht beurteilen. Dann blieb er abrupt stehen.
Bisher hatte er keine menschlichen Überreste gefunden. Das hatte sich soeben geändert. Er erkannte an der Form des Gewebeteppichs, dass irgendwas eine Leiche beinahe komplett aufgelöst hatte. Ein paar Rippenbögen, Teile der Wirbelsäule und des Beckens zeichneten sich deutlich ab, der Schädel war nur ein formloser Klumpen.
»Es handelt sich weder um Pilze noch um Flechten«, meldete die Anzugpositronik, die sofort nach dem Auslösen des Verschlusszustands ihre analytischen Sensoren auf volle Leistung geschaltet hatte. »Es sind Prokaryoten.«
»Autochthon?«, fragte Sofgart. »Oder wurden sie von den Siedlern eingeschleppt?«
»Beides wahrscheinlich«, antwortete die Positronik. »Der Konflikt zwischen den Fremdprokaryoten und der einheimischen Mikrofauna ist in vollem Gange. Die xenophytischen Bakterien und Archaeen kämpfen um Anpassung. Die einheimischen Formen wollen ihre biologischen Nischen halten. Die Konfrontation mit fremden Mikroben ist für die lokale Mikrobiologie ein klassischer evolutionärer Stressor: Die Weiterentwicklung wird intensiviert. Das ist wild tobende Evolution.«
Sofgart beugte sich leicht nach vorn. Die watteähnlichen Geflechte setzten sich aus Myriaden einzelliger Lebewesen zusammen, die sich gegen die eingeschleppten Keime zur Wehr setzten. Solche Kämpfe gab es während der meisten Siedlungsprojekte, und nicht alle gingen gut aus. Wahrscheinlich versuchten die Mikrobioten, die während des Zersetzungsprozesses der toten Körper aktiv waren, sich durchzusetzen. Die Schwierigkeiten bei den Anpassungsprozessen der Kolonisten an eine neue Welt beschränkten sich nicht auf die Makrobiologie, wie Knochendichte, Muskulatur oder Atmungssystem. Die Feinheiten waren häufig sehr viel wichtiger. Siedler an eine fremde Mikrofauna zu adaptieren, ohne dass dies mit den innerkörperlich aktiven Bakterienstämmen kollidierte, war extrem kompliziert. Bei geschätzten 30 Billionen Körperzellen eines typischen Humanoiden ging man von einer durchschnittlichen Bakterienanzahl von 39 Billionen aus, die das Individuum besiedelten. Viele davon waren für die Funktion des Körpers lebenswichtig.
Sofgarts Schutzschirm flammte auf. Unzählige winzige Funken blitzten. Jeder davon war ein Keim, der ihn wahrscheinlich töten könnte. Farbige Flocken lösten sich aus dem flatternden Bakterienteppich und schwebten auf Sofgart zu. Er wich einen Schritt zurück.
»Warnung!«, verkündete die Positronik. »Ich messe potente Konzentrationen organischer Säuren und etlicher extrem toxischer Substanzen an.«
Die ersten größeren Flocken erreichten ihn, erneut leuchtete es in Sofgarts Schutzschirm auf. Grelle Funken stoben, als die Bakterienkonglomerate mit der Energieblase in Kontakt kamen und vernichtet wurden.
Sofgart schwitzte. Aus Erfahrung wusste er, dass gerade diese hochaktiven Bakterien evolutionär sehr schnell aufrüsteten. Auf Fulkmonn hatte ein solcher Keim Fluor-Antimonsäure produziert, eine Supersäure. Die Giftstoffe, die Mikrofauna bei solchen Abwehrkämpfen entwickelte, waren häufig im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch. Die Gefahr, dass sie sich sogar durch eine der überaus stabilen Schutzmonturen fraßen, war recht groß.
Es sieht beinahe aus, als attackierten sie mich, schoss es ihm durch den Kopf.
Weitere Flocken lösten sich. Sie sahen wunderschön aus, glänzten im grellen Licht von Deneb in Scharlachrot, Schwefelgelb und Kobaltblau. Sie schwebten auf Sofgart zu, als wollten sie ihn in ihren ätherischen Tanz einbeziehen.
»Ich empfehle den sofortigen Rückzug!«, drängte die Positronik seiner Montur. »Soll ich das Keimnest ausbrennen?«
»Nein«, lehnte Sofgart entschieden ab, während er sich weiter zurückzog. »Wir überlassen die Natur sich selbst. Es ist nicht unsere Aufgabe, regulierend einzugreifen. Diese Welt hat gewonnen ... Und ich denke, dies ist lediglich das Schlusskapitel. Das ist ohnehin nicht der Ort, an den es mich zieht.« Zumindest dessen war er sich sicher.
Ein halbes Dutzend sonderbar