Alfred Hein

Annke - Kriegsgeschichte eines ostpreussischen Mädchens (1914-1918)


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bei den weittragenden Geschützen heute ein schwieriges Unternehmen, meint der Leutnant. Wir kämen wahrscheinlich in die Schlacht mitten hinein. Trotzdem, Herr Leutnant, wollen wir es versuchen. Wir sind im wesentlichen nur noch die Familie des Hauptlehrers und wir hier im Dorf — vielleicht noch ein paar andere, die sich ängstlich versteckt halten — jedenfalls füttern der Hauptlehrer und ich dauernd das zurückgelassene Vieh — wer weiss, ob es Zweck hat?“

      Der Leutnant sagte, man sollte doch mit der Flucht abwarten. Wenn heute abend oder morgen früh die Landstrasse in deutschen Händen ist, dann wäre die Flucht überflüssig, ist sie von russischen Truppen überflutet, so wären die Fliehenden schnell von der flinken Kavallerie erreicht — und was dann geschieht, hängt von der Gnade des Siegers ab, der nicht immer von Barmherzigkeit erfüllt ist. Doch, Herr Pfarrer, ich muss weiter vor — bis —“

      „Bis Sie Feuer bekommen?“

      Der Leutnant schwieg.

      „Das ist ja furchtbar, dieser Auftrag,“ rief die Frau Pfarrer. Sie reichte dem jungen blonden Leutnant, der noch keine zwanzig Jahre zählte, ein Glas Wein und streichelte ihn.

      Bernhard, Adolf und Herbert waren auf das Dach des Schulhauses geklettert, um das Vorgehen der Patrouille zu beobachten. Der Pfarrer eilte sofort nach deren Abmarsch ins Schulhaus hinüber, um sich mit dem Vater zu beraten.

      Die Patrouille schlich an der hohen Tannenhecke, die den Kirchhof einrahmte, vor, warf sich dann wieder in den Schnee und kroch, eine schwarzgraue Schlange, den Graben entlang.

      „Jetzt sind sie nur noch fünfzig Schritt von der Landstrasse,“ flüsterte Bernhard erregt.

      „Da — der Leutnant!“ rief Herbert.

      „Er hält mit dem Fernglas Umschau.“

      Tak — tak — tak — tak —

      „Ein Maschinengewehr! Aus dem Tannenwäldchen jenseits der Landstrasse.“

      Jetzt auch Gewehrgeknatter.

      „Sie kriechen zurück — zwei bleiben liegen.“

      Ein Sausen durch die Luft — ein Krach — eine Fontäne aus Eisensplittern und Erdstücken spritzt mitten in der weissen Wiese auf: Granate! Noch eine! Noch eine!

      „Sie laufen zurück — da hinten aus dem Tannenwäldchen — Russen — so viele!“

      Hinter der Tannenhecke halten ächzend drei von den sieben an, um sich zu verschaufen.

      „Der Leutnant — Kopfschuss,“ sagte der eine und wischte sich mit der erfrorenen Hand den Schweiss von der Stirn.

      „Das Wäldchen ist dick voll mit Russen, wir müssen es melden. Das wird schlimm.“

      Am anderen Morgen, dem Märzsonntag, an dem der Frühling begann und sonst die jungen Mädchen an den eiszersprengenden Bach gingen und sich schön wuschen, da zogen in dicken schwarzen Kolonnen strassauf, strassab, zehntausende Russen, Infanterie, Artillerie und Reiterei.

      Und nun erfüllte sich auch Annkes Schicksal.

      Durch Nacht und Schnee ins Ungewisse

      Die Schlacht war im Gange.

      Rosillen wurde Quartierort der Russen. Schon am Sonnabend nachmittags waren alle zurückgebliebenen Bewohner auf die Strasse getrieben worden: „Marsch, nach Tilsit!“

      Doch als der Zug der Flüchtlinge auf der Landstrasse sich mühsam hindurchwand, die Grossmutter kutschierte den Wagen, der alle Frauen trug, Mutter das kleine schreiende Brüderchen im Arm, das Annke, die neben ihr sass, tröstend streichelte, hiess es plötzlich: Halt!

      Ein russischer Offizier ritt herzu und gab dem Pfarrer in gebrochenem Deutsch zu verstehen, dass zwei russische Divisionen im Anmarsch auf der Chaussee seien — ein Durchkommen der Flüchtlinge sei unmöglich.

      Dann befahl er — Annke und die Mutter schrien auf, als sie sahen, was nun geschah — den Pfarrer, den Vater, einen achtzig Jahre alten Knecht und den fünfzehnjährigen Bernhard in Haft zu nehmen. Der Wagen mit den Frauen wurde von zwei Infanteristen auf den Weg ins Dorf zurückgeschoben, obwohl die Grossmutter kein Blatt vor den Mund nahm und über die „verdammte Schweinerei und Gemeinheit“ so schimpfte, dass einer der russischen Soldaten ihr das Bajonett vor die Brust hielt.

      Annke schluchzte vor sich hin: Väterchen. Herbert und Adolf liefen wie zwei Hündchen neben dem Wagen her, der wieder ins Dorf einfuhr, während die vier gefangenen Männer im Gewühl der Soldaten verschwanden.

      „Sie werden sie erschiessen,“ flüsterte Annke.

      „Quatsch keinen Kohl! Die glauben doch auch an einen Gott — wir haben nichts getan,“ fuhr die Grossmutter drein.

      Als die Frauen und Kinder alle im Schulhaus zusammensassen, ratlos, trostleer, ohne Hoffnung — und draussen dröhnten die Kanonen, erscholl das ewige Gekläffe der Gewehrschüsse, das Getacke der Maschinengewehre in die mit leisem Schnee so friedlich sich niedersenkende Märznacht, als selbst die Grossmutter den Kopf hängen liess und schwieg, da — sprang die Tür weit auf:

      Bernhard — der Vater — der Pfarrer der Alte — alle waren wieder da!

      „Man hat uns bloss ausgehorcht!“ schrie Bernhard. „Wir haben aber nichts verraten!“

      „Weil wir ja gar nichts wissen,“ sagte der Pfarrer.

      „Doch wer weiss, was noch geschieht?“ seufzte Vater.

      „Jau, jau — dänn man tau,“ nickte der alte Knecht vor sich hin.“

      Alles lachte! —

      Vierundzwanzig Stunden später, als der Geschützdonner immer näher kam und schon deutsche Granaten in das Dorf einschlugen, als die „russische Dampfwalze“ sich wieder rückwärts bewegen musste, und die gestern noch mit siegesgewissen Mienen vorwärts rasenden wilden Reiter heute mit bangen Gesichtern durchs Dorf zur Grenze galoppierten, da riss die Kriegswoge dies Häuflein im Grenzdorf mutig ausharrender Deutscher noch mit sich in den brandenden Strudel.

      Plötzlich zerklirrte eine Fensterscheibe. Noch eine.

      „Sie schiessen aus purem Übermut in unsere Fenster,“ sagte der Vater.

      „Aus Wut, dass sie besiegt werden,“ Bernhard ballte die Fäuste.

      „Alle in den Keller!“

      Nun hockten die Gehetzten und Hungernden Stunde um Stunde, während zu ihren Häupten dauernd Marschtritte erschollen, dann und wann Schüsse krachten, in dem düsteren kalten Raum.

      „Äpfel?“ schrie Adolf.

      „Ach, das Schüttelobst,“ sagte der Vater. „Verteil mal — alles hat Hunger.“

      „Wir essen Ihre schönen Äpfel, Herr Hennig, es ist aber alles andere als ein paradiesischer Zustand,“ lächelte der Pfarrer. „Wollen wir eine Zigarre rauchen?“

      Die Herren zündeten sich die Zigarren an. Gespenstisch leuchteten die Gesichter der Zusammengedrängten auf.

      „Jau, jau — dänn man tau,“ meldete sich der Alte.

      „Ach so.“ Der Pfarrer reichte ihm auch eine Zigarre hinüber.

      „Ich glaube, jetzt können wir wieder nach oben. Die Aasbande ist weg,“ sagte die Grossmutter.

      Der Vater und der Pfarrer gingen voran. Sie traten ins Wohnzimmer. Welch Durcheinander! Der Spiegel zerschlagen, das Sofa mit einem Säbelhieb zerschnitten, Tisch, Stühle und Teppich beschmutzt.

      Drei russische Unteroffiziere sassen in dem verwüsteten Zimmer herum. Einer zündete gerade die Lampe an. Sie riefen sich unverständliche Worte zu —

      Wenige Minuten später hatten sie ihre Soldaten in den Keller heruntergeschickt, die mit Püffen und Kolbenstössen die Armen vor sich her trieben.

      Ein russischer Offizier erschien — gab Befehle.