nicht jung mehr bin ich auf den Hof gekommen, geheiratet hab ich nicht, das hätt’ dem Seligen nicht gefallen, Frauenzimmer hat er nicht gern gesehn, ausgenommen seine eigene Frau Baronin, aber die ist bald gestorben, auf der Lunge. Alle haben gewußt: er hat dem Kaiser das Leben gerettet, in der Schlacht bei Solferino, aber er hat nichts davon gesagt, kein Mucks hat er gegeben. Deshalb haben sie ihm auch ‹Der Held von Solferino› auf den Grabstein geschrieben. Gar nicht alt ist er gestorben, so, am Abend, gegen neun, im November wird’s gewesen sein. Geschneit hat es schon, nachmittags ist er schon im Hof gestanden und hat gesagt: ‹Jacques, wo hast die Pelzstiefel hingetan?› Ich hab’s nicht gewußt, aber gesagt hab’ ich: ‹Gleich hol’ ich sie Herrn Baron!› ‹Hat Zeit bis morgen!› sagt’ er — und morgen hat er sie nicht mehr gebraucht. Geheiratet hab’ ich nie!»
Das war alles.
Einmal (es waren die letzten Ferien, in einem Jahr sollte Carl Joseph ausgemustert werden) sagte der Bezirkshauptmann beim Abschied: «Ich hoffe, daß alles glatt geht. Du bist der Enkel des Helden von Solferino. Denk daran, dann kann dir nichts passieren!»
Auch der Oberst, alle Lehrer, alle Unteroffiziere dachten daran, und also konnte Carl Joseph in der Tat nichts passieren. Obwohl er kein ausgezeichneter Reiter war, in der Terrainlehre schwach, in der Trigonometrie ganz versagt hatte, kam er «mit einer guten Nummer» durch, wurde als Leutnant ausgemustert und den X. Ulanen zugeteilt.
Die Augen trunken vom eigenen neuen Glanz und von der letzten feierlichen Messe, das Ohr erfüllt von den donnernden Abschiedsreden des Obersten, im azurnen Waffenrock mit goldenen Knöpfen, das silberne Patrontäschchen mit dem goldenen erhabenen Doppeladler am Rücken, die Tschapka mit Schuppenriemen und Haarschweif in der Linken, in knallroten Reithosen, spiegelnden Stiefeln, singenden Sporen, den Säbel mit breitem Korb an der Hüfte: so präsentierte sich Carl Joseph an einem heißen Sommertag seinem Vater. Es war diesmal kein Sonntag. Ein Leutnant durfte auch am Mittwoch kommen. Der Bezirkshauptmann saß in seinem Arbeitszimmer. «Mach dir’s bequem!» sagte er. Er legte den Zwicker ab, zog die Augenlider zusammen, erhob sich, musterte seinen Sohn und fand alles in Ordnung. Er umarmte Carl Joseph, sie küßten sich flüchtig auf die Wangen. «Nimm Platz!» sagte der Bezirkshauptmann und drückte den Leutnant in einen Sessel. Er selbst ging auf und ab durchs Zimmer. Er überlegte einen passenden Anfang. Ein Tadel war diesmal nicht anzubringen, mit einem Ausdruck der Zufriedenheit konnte man nicht beginnen. «Du solltest dich jetzt», sagte er endlich, «mit der Geschichte deines Regiments beschäftigen und auch ein wenig in der Geschichte des Regiments nachlesen, in dem dein Großvater gekämpft hat. Ich hab’ zwei Tage dienstlich in Wien zu tun, wirst mich begleiten.» Dann schwang er die Tischglocke. Jacques kam. «Fräulein Hirschwitz», befahl der Bezirkshauptmann, «möchte heute den Wein heraufholen lassen und, wenn’s geht, Rindfleisch vorbereiten und Kirschknödel. Wir essen heute zwanzig Minuten später als gewöhnlich.» — «Jawohl, Herr Baron», sagte Jacques, sah Carl Joseph an und flüsterte: «Gratuliere herzlich!» Der Bezirkshauptmann ging zum Fenster, die Szene drohte rührend zu werden. Hinter seinem Rücken vernahm er, wie der Sohn dem Diener die Hand gab, Jacques mit den Füßen scharrte, etwas Unverständliches vom seligen Herrn murmelte. Er wandte sich erst um, als Jacques das Zimmer verlassen hatte.
«Es ist heiß, nicht?» begann der Alte.
«Jawohl, Papa!»
«Ich denke, wir gehn an die Luft!»
«Jawohl, Papa!»
Der Bezirkhauptmann nahm den schwarzen Stock aus Ebenholz mit dem silbernen Griff, nicht das gelbe Rohr, das er sonst an hellen Vormittagen zu tragen liebte. Auch die Handschuhe behielt er nicht in der Linken, er streifte sie über. Er setzte den Halbzylinder auf und verließ das Zimmer, gefolgt von dem Jungen. Langsam und ohne ein Wort zu wechseln, gingen beide durch die sommerliche Stille des Stadtparks. Der Stadtpolizist salutierte, Männer erhoben sich von den Bänken und grüßten. Neben der dunklen Gravität des Alten nahm sich die klirrende Buntheit des Jungen noch leuchtender und geräuschvoller aus. In der Allee, in der ein hellblondes Mädchen Sodawasser mit Himbeersaft unter einem roten Sonnenschirm ausschenkte, hielt der Alte ein und sagte: «Ein frischer Trunk kann nicht schaden!» — Er bestellte zwei Soda ohne und beobachtete mit verstohlener Würde das blonde Fräulein, das wollüstig und willenlos ganz in den farbigen Schimmer Carl Josephs einzutauchen schien. Sie tranken und gingen weiter. Manchmal schwenkte der Bezirkshauptmann ein bißchen den Stock, es war wie die Andeutung eines Übermuts, der sich in Grenzen zu halten weiß. Obwohl er schwieg und ernst war wie gewöhnlich, erschien er seinem Sohn heute beinahe flott. Aus seinem frohen Innern brach gelegentlich ein wohlgefälliges Hüsteln, eine Art Lachen. Grüßte ihn jemand, so hob er kurz den Hut. Es gab Augenblicke, in denen er sich sogar zu kühnen Paradoxen vortraute, wie zum Beispiel: «Auch Höflichkeit kann lästig werden!» Er sprach lieber ein gewagtes Wort aus, als daß er sich die Freude über die staunenden Blicke der Vorbeikommenden hätte anmerken lassen. Als sie sich wieder dem Haustor näherten, blieb er noch einmal stehen. Er wandte sein Angesicht dem Sohn zu und sagte: «In meiner Jugend wär’ ich auch gern Soldat geworden. Dein Großvater hat’s ausdrücklich verboten. Jetzt bin ich zufrieden, daß du nicht Beamter bist!» —
«Jawohl, Papa!» erwiderte Carl Joseph.
Es gab Wein, auch Rindfleisch und Kirschknödel hatte man ermöglicht. Fräulein Hirschwitz kam im sonntäglich Grauseidenen und ließ beim Anblick Carl Josephs den größten Teil ihrer Strenge ohne weiteres fallen. «Ich freue mich sehr», sagte sie, «und beglückwünsche Sie herzlich.» — «Beglückwünschen heißt gratulieren», bemerkte der Bezirkshauptmann. Und man begann zu essen.
«Du brauchst dich nicht zu eilen!» sagte der Alte. «Wenn ich schneller fertig bin, wart’ ich noch ein bißchen.» Carl Joseph sah auf. Er begriff, daß der Vater seit Jahr und Tag wohl gewußt hatte, wieviel Mühe es kostete, mit ihm Schritt zu halten. Und zum ersten Mal war es ihm, als sähe er durch den Panzer des Alten in sein lebendiges Herz und in das Gewebe seiner geheimen Gedanken. Obwohl er bereits ein Leutnant war, wurde Carl Joseph rot. «Danke, Papa!» sagte er. Der Bezirkshauptmann löffelte hastig weiter. Er schien nicht zu hören.
Ein paar Tage später stiegen sie in den Zug nach Wien. Der Sohn las in der Zeitung, der Alte in den Akten. Einmal blickte der Bezirkshauptmann auf und sagte: «Wir wollen in Wien eine Salonhose bestellen, du hast nur zwei.» — «Danke, Papa!» — Sie lasen weiter.
Sie waren knapp eine Viertelstunde vor Wien, als der Vater die Akten zusammenklappte. Der Sohn legte sofort die Zeitung weg. Der Bezirkshauptmann sah auf die Fensterscheibe, dann ein paar Sekunden auf den Sohn. Plötzlich sagte er: «Du kennst doch den Wachtmeister Slama?» — Der Name schlug an Carl Josephs Gedächtnis, ein Ruf aus verlorenen Zeiten. Er sah sofort den Weg, der zum Gendarmeriekommando führte, das niedrige Zimmer, den geblümten Schlafrock, das breite und wohlbepackte Bett, er roch den Duft der Wiesen und gleichzeitig das Reseda der Frau Slama. Er lauschte. «Er ist leider Witwer geworden, in diesem Jahr», fuhr der Alte fort. «Traurig. Die Frau ist an einer Geburt gestorben. Solltest ihn besuchen.»
Es wurde auf einmal unerträglich heiß im Kupee. Carl Joseph versuchte, den Kragen zu lockern. Während er vergeblich nach einem passenden Wort rang, stieg eine törichte, heiße, kindische Lust, zu weinen, in ihm auf, würgte ihn im Hals, sein Gaumen wurde trocken, als hätte er seit Tagen nicht getrunken. Er fühlte den Blick seines Vaters, sah angestrengt in die Landschaft, empfand die Nähe des Ziels, dem sie unaufhaltsam entgegenfuhren, als eine Verschärfung seiner Qual, wünschte sich wenigstens in den Korridor und sah gleichzeitig ein, daß er dem Blick und der Mitteilung des Alten nicht davonlaufen könne. Er raffte schnell ein paar schwache vorläufige Kräfte zusammen und sagte: «Ich werde ihn besuchen!»
«Es scheint, daß du die Eisenbahn nicht verträgst», bemerkte der Vater.
«Jawohl, Papa!»
Stumm und aufrecht, von einer Qual bedrängt, der er keinen Namen hätte geben können, die er niemals gekannt hatte und die wie eine rätselhafte Krankheit aus fernen Zonen war, fuhr Carl Joseph ins Hotel. Es gelang ihm noch: «Pardon, Papa!» zu sagen. Dann schloß er sein Zimmer ab, packte den Koffer aus und zog die Mappe hervor, in der ein paar Briefe der Frau Slama lagen, in den Umschlägen, wie sie gekommen waren, mit der chiffrierten Adresse,