besten tanzten Christa und Thomas miteinander, weil sie es zu Hause bei Radiomusik manchmal übten. Gisela hatte selten getanzt. Nach der Tanzstunde war bald die Nervenschwäche der Mutter aufgetreten, und ihre Lebensführung hatte seitdem zu ernst sein müssen, als daß sie viel zu Vergnügungen gekommen wäre. Trotzdem war ihr nie eine gedrückte Stimmung anzumerken, und sie konnte lustiger sein als alle. Nur was Pflicht heißt und Verantwortung, das hatte sie früh lernen müssen. Selbstverständlich tanzte sie gern, und ihre natürliche Anmut half ihr auch bald, den Mangel an Uebung auszugleichen. Aber Thomas hielt nur zaghaft ihre leichte Gestalt im Arm. Langsam freilich schwand seihe Scheu ein bißchen, weil es ein gar so vergnügter Nachmittag war und er in Gisela am liebsten die ganze sonnenhelle, himmelblaue Welt umarmt hätte.
Endlich war man müde getanzt und vom Kuchen satt, obwohl Christa von Süßigkeiten nicht leicht genug bekam. Unter Scherzen und Lachen beschloß man die Fortsetzung der kleinen Wanderung. Noch ein Weilchen gingen sie zu Viert; dann war es endlich Christa, die entschlossen Karl bei der Hand faßte und mit ihm davonlief. Bald ließ sie ihn wieder los und forderte ihn zum Wettlauf auf. Sie konnte schnell laufen und schlug Haken. Hinter einem Busch, um den es ein paarmal herumging, rief sie endlich:
„Wenn du mich fängst, kriegst du einen Kuß!“
„Gut“, antwortete Karl, „es gilt.“
Nun setzte die Jagd verschärft ein. Nicht ganz absichtslos entfernte sich Christa dabei immer mehr von dem anderen Paar.
Gisela und Thomas hatten sich erst verdutzt angeblickt, als die beiden anderen davonstoben, dann lachten sie und gingen den Weg langsam weiter. Thomas hätte zu gern Giselas Arm genommen. Aber durfte man denn das so einfach? Würde sie ihn nicht befremdet und erstaunt abwehren? Was eben noch so selbstverständlich und leicht ging, beim Tanz oder im Spiel zu Viert, das wurde ihm jetzt schwer, ja fast unmöglich. Auch Gisela sagte nichts und ging mit ihrem leichten Schritt neben ihm her.
„Hoffentlich verlieren wir die beiden nicht“, entschloß er sich endlich zu sagen.
„Ach nein“, meinte sie lächelnd, ohne den Kopf zu heben.
Wieder gingen sie schweigend nebeneinander her.
Doch da entdeckte sie etwas. Ein stahlblauer Mistkäfer lag auf dem Rücken im sonnenwarmen Sande des Weges und zappelte mit Füßchen und Fühlern. Er konnte augenscheinlich nicht selbständig in die ihm von der Natur bestimmte Lage finden. Sie hockte sich schnell nieder und drehte ihn um.
„Siehst du, mein Kleiner, man muß dir nur ein bißchen helfen“, sagte sie dabei. Thomas hatte sich neben sie gehockt, und beide sahen nun dem Käfer zu, wie er mit würdigem Eifer, als wenn er nie in Not gewesen wäre, dem nahen Grase zustrebte. Lachend sahen sie sich an, und beim Aufstehen wagte er es, ihre Hand zu ergreifen. Er empfand das als eine der größten Mutleistungen, die er je hatte vollbringen müssen und war auf alle Folgen gefaßt. Nur langsam und staunend begriff er, daß sie ihm ihre Hand ohne Widerstand ließ.
So gingen sie nun Hand in Hand den Weg weiter, der von hohen Kiefern angenehm beschattet wurde und von lichten Birken gesäumt war. Immer tiefer erfüllte ihn das Glück, so neben ihr gehen zu dürfen. Wie ein geheimer Strom floß es ihm von dem Mädchen neben ihm entgegen — durch die Hände, an denen sie sich gefaßt hielten. Manchmal wagte er es, sie anzusehen. Sie hielt den Kopf gesenkt, ihr dunkles Haar glänzte mit einem kupfernen Schimmer. Es fiel etwas nach vorn und ließ ihr Profil noch reiner und heller hervortreten.
„Willst du mit mir meine Lieblingswege gehen?“ fragte er nach einer Weile leisen. Sie blickte ihn nur flüchtig an, und er spürte einen kleinen Druck ihrer Hand. Das war ihm wie eine Liebkosung und galt ihm als das schönste Zeichen ihres Einverständnisses. Sie dachten nicht mehr an Christa und Karl — — —
Mutter Frey hatte nur ihr gutes Lächeln, als Thomas viel später als Christa nach Hause kam und sich ungeschickt entschuldigen wollte.
5.
Der große Tag war da: Ferienbeginn. Wie ein Bienenschwarm waren die Schüler des Gymnasiums davongestürmt, nachdem ihnen die Schulglocke zum letztenmal für fünf Wochen geläutet hatte.
Dr. Melk sah ihnen nach. Oberstudiendirektor Sternhaus trat zu ihm:
„Herr Kollege, lassen Sie uns an diesem schönen Vormittag noch ein halbes Stündchen plaudern.“
„Gern, Herr Direktor.“
Die beiden Lehrer schritten der Allee zu, die von dem Schloß, in dem die Schule untergebracht war, zu dem großen Park hinüberleitete, hinter dem dann die Sportplätze der Schule lagen.
„Ich habe also noch einmal Ihretwegen bei Oberschulrat Nietmann angefragt“, sagte der Direktor. „Gestern traf seine Antwort ein. Sie müssen trotz Ihres Alters und Ihrer anerkannten Fähigkeiten ins Schulungslager. Das Provinzialschulkollegium hat es erneut angeordnet.“
Melk lachte nur: „Wir wissen doch beide, Herr Direktor, daß Nietmanns Wort beim PSK geheiligt ist, weil er die niedrigste Parteibuchnummer all der Herren dort hat.“
„Lieber Kollege“, Sternhaus sah sich ängstlich um, „Sie reden sich bestimmt noch um Ihren Kopf. Ich bitte Sie, seien Sie vorsichtig. Das sage ich einmal aus Freundschaft zu Ihnen und zum anderen aus Egoismus. Ich kann Sie im Kollegium unmöglich entbehren, ohne daß die Frequenz der ganzen Schule sinkt. Und dann machen Sie es auch mir nur schwer auf meinem Posten. Ich habe keinen leichten Stand, wie Sie wissen, weil ich früher einer Partei angehörte, die den Nationalsozialismus bekämpfte. Hätten wir genug Lehrer in Deutschland, wäre ich längst durch einen politisch einwandfreien, sicheren Mann, möglichst durch einen ‚Alten Kämpfer‘, ersetzt worden. Auch so konnte ich mich nur halten, weil ich Pg wurde und SA-Mann.“
„Stört Sie der Dienst nicht?“
„Dieser Dienst ist gar nicht so schlimm. Ich übernahm den Unterricht der SA-Kameraden jeden Sonntagmorgen im Rahmen der vormilitärischen Ausbildung. Es macht mir fast Spaß, den Leuten etwas Schießlehre beizubringen. Im übrigen verzichte ich allerdings gern auf den Außendienst. Das Tam-Tam liegt mir gar nicht, zumal ich in dieser braunen Uniform wirklich unmöglich aussehe. — Sie haben mich ja neulich am 1. Mai in Reih und Glied gesehen“, fügte er hinzu, als er Melks Lächeln bemerkte.
„Hm, Herr Direktor, ich verstehe nur nicht, warum Sie sich zu etwas zwingen, was Ihnen so zuwider ist.“
„Warum? — Lieber Kollege, in welcher Welt leben Sie! Wir sind die Generation der ‚Umwertung aller Werte‘: Drei verschiedene Eide haben wir schon geleistet — auf das Kaiserreich, auf die Republik und auf das Dritte Reich. Es kommt auf einige Metamorphosen mehr oder weniger nicht mehr an. Wichtig ist nur, ob es dem Vaterlande dient — und das ist, wenn nicht aller Augenschein trügt, im Hinblick auf den letzten Eid kaum zu bezweifeln —, und wichtig ist zweitens, ob es mir selbst dient, mir und meiner Familie. Meinen Sie, ich wäre bei einer anderen Einstellung noch im Amt?“
„Wahrscheinlich wären Sie entlassen oder pensioniert worden“, sagte Melk langsam, „aber wäre das wirklich schlimmer, als diese Windfahnenpolitik? — Verzeihen Sie das Beispiel!“
„Ich kann Ihre Wahrheiten vertragen, Melk. Sie wollen sagen: ‚Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?‘ — Sie berühren da einen wunden Punkt, aber sehen Sie, die Verhältnisse sind immer stärker als man selber. Ich war ein lustiger Burschenschaftler als Student, eine Zeit, die ich um keinen Preis missen möchte. Jetzt habe ich drei Jungen auf der Universität, wo leider nicht mehr der alte Geist der Korporationen herrscht, aber doch immer noch eine gewisse Fidelitas, wie sie schreiben und erzählen. Sollen es meine Söhne schlechter haben, als ich es hatte? Nein. Ich schicke ihnen also einen anständigen Wechsel. Dazu will meine älteste Tochter heiraten; meine Frau ist nicht ganz anspruchslos — für alles muß ich aufkommen. Außerdem aber kann ich ohne die Schule nicht froh sein; ich fühle mich wohl in meinem Amt. Soll ich das alles zum Einsturz bringen durch — nun durch Gesinnungstüchtigkeit?“
„Zweifellos eine Frage, vor der wir heute alle stehen“, bestätigte Melk.