5 – Lennies Befürchtungen
Während der Autofahrt ließ mir unser so jäh unterbrochenes Gespräch keine Ruhe. Normans Geschichte von finstren Mächten und dem Königreich klang wie eines dieser Fantasy-Abenteuer, von denen jede Buchhandlung unzählige im Programm hatte. Fehlten nur noch Orks und Elben. Aber für mich, der den Herr-der-Ringe-Schmöker nach fünfzig Seiten gelangweilt weggelegt hatte und mit Fabelwesen nicht viel anfangen konnte, war das alles ausgemachter Unfug fernab der Realität. Ich war studierter Mediziner und niemand, der zum Einschlafen J. R. R. Tolkien oder Terry Pratchett las. Wenn ich Lust auf Märchen hatte, brauchte ich mir bloß das Geschwafel unserer Politiker anhören.
Auf der anderen Seite waren die vielen merkwürdigen Ereignisse in den vergangenen Tagen. Hätte ich Normans gesichtslosen Verfolger lediglich gestern Abend am Stadtrand gesehen, hätte ich es darauf schieben können, dass er mich mit seiner Paranoia angesteckt hatte. Vermutlich wäre ich ebenso davon ausgegangen, dass er nicht mehr alle Nadeln an der Tanne hatte. Doch am Tag davor hatte ich sie ebenfalls gesehen. Wenn ich ihre Existenz eingestehen musste, bestand da nicht die Chance, dass auch der Rest von Normans unglaublicher Geschichte stimmte?
Sein Bericht, die bisherigen Ereignisse und die Graffiti, die mittlerweile fast überall zu sehen waren, passten hervorragend zusammen – jedenfalls soweit ich es trotz der tausend offenen Fragen einzuschätzen vermochte. Deshalb konnte ich auch nicht einfach die Augen verschließen. Abgesehen davon hatte mich Norman mit den Geschichten über seine geheime Welt neugierig gemacht. Ich wollte mehr darüber erfahren und der beste Weg dafür war, ihn bei der Lösung seiner Probleme zu helfen. Ich hatte ohnehin das Gefühl, dass es längst auch meine Probleme geworden waren.
Als uns eine rote Ampel kurzzeitig zum Halten zwang, warf ich meinem Beifahrer einen auffordernden Blick zu. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt für weitere Erklärungen gewesen. Doch, Norman starrte weiterhin geistesabwesend aus dem Fenster. Dass wir angehalten hatten, schien er nicht mal bemerkt zu haben.
Im Radio dudelte eine Klamotte aus den Siebzigern, die mir noch nie gefallen hatte. Abstellen wollte ich das Radio trotzdem nicht. Dafür war ich viel zu froh darüber, diesmal nicht von unheimlichen Stimmen belästigt zu werden.
An einer übergroßen Sporthalle bogen wir in Richtung Stadtpark ab. Lauerten hier die dunklen Männer vielleicht hinter dem nächsten Busch oder beschränkten sie sich auf finstere Gassen und die Nacht? Ich spürte, wie Normans Vorsicht auf mich überschwappte und ich manche Straßen und Abzweigungen bewusst mied. Erstaunlich, wie schnell einen dieses Fieber packte.
Ein ganz anderer Punkt war das Geld. Wenn ich Norman wirklich bei seinen Plänen unterstützen wollte – wie auch immer die aussahen – brauchten wir welches. Dazu fielen mir spontan drei Punkte ein: mein ziemlich leeres Portemonnaie, mein ziemlich leeres Bankkonto, und last but not least: Lennie. Der alte Schlawiner schuldete mir noch immer fünfhundert Dollar. Ich glaubte zwar nicht, dass mein Hellseherfreund mir jemals die komplette Summe zurückzahlen würde, doch allein die Hälfte wäre im Moment äußerst willkommen. Außerdem wollte ich mich vergewissern, dass es ihm besser ging. Beim letzten Mal hatte mir sein Anblick sehr zu denken gegeben.
Ich parkte den Buick unweit der Stelle, an der ich vorgestern geparkt hatte. Direkt davor stand zwar ein Halteverbotsschild, doch aus Erfahrung wusste ich, dass sich in Lennies Viertel ohnehin keine Politesse wagte. Weshalb auch? Die meisten Menschen hier waren arme Schlucker, bei denen es ohnehin nichts zu holen gab. Von ansteckenden Krankheiten einmal abgesehen.
Auf dem Weg zu Lennies Wohnung marschierten wir an der Wand vorbei, wo ich Der König ist tot zum zweiten Mal gesehen hatte. Beim Anblick der Graffitibotschaft seufzte Norman sorgenvoll, sagte aber nichts.
Lennie erschien nach dem zweiten Klopfen an der Tür. Sein Gesicht war noch immer ungesund blass, doch seine Augen waren klar und musterten meinen Freund genau. »Hallo Nat, was treibt dich um diese Zeit hierher? Müsstest du nicht eigentlich arbeiten? Und wer ist dein neuer Freund? Ich hoffe, er ist kein Schuldeneintreiber.«
Ich stellte Norman als befreundeten Kollegen aus Philadelphia vor und stillte damit Lennies Neugierde. Er warf noch einen nervösen Blick ins Treppenhaus und verschloss die Tür hinter uns.
»Du siehst schlecht aus«, sagte ich auf dem Weg ins Wohnzimmer. Auch diesmal stand eine leere Flasche Wurzelbier auf dem Tisch. Eventuell ging es ihm ja deswegen nicht gut. »Hast du irgendeine Krankheit, von der ich mich in Acht nehmen sollte?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Er versuchte zu lächeln. Es blieb bei dem Versuch. »Ich habe nur immer noch dieses verfluchte Schlafproblem.«
»Warum? Wenn jemand Zeit zum Schlafen hat, dann du. Ich kenne niemanden, der noch weniger zu tun hat.«
»Haha, ich lach mich scheckig. Es geht hier nicht um die Zeit. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht schlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, habe ich diese schrecklichen Bilder vor Augen.«
»Was denn für Bilder?«, mischte sich Norman ein. Wir ließen uns auf der ramponierten Couch nieder. In der Mitte saß ich, Lennie rechts von mir, unser schreckhafter Lockenkopf links.
»Keine Ahnung«, erwiderte Lennie. »Wirres Zeug. Ist nicht weiter wichtig.«
»Vielleicht gehst du mal zum Arzt«, schlug ich vor.
»Zu einem Quacksalber? Keine zehn Pferde bekommen mich dorthin. Die haben doch sowieso alle nur Scheiße im Hirn.«
»Dein Vertrauen ehrt mich. Hast du heute mal einen Blick in deinen Spiegel geworfen? Wundert mich, dass sich Romero und Carpenter noch nicht gemeldet haben. Du würdest einen prima Hauptdarsteller für einen Horrorfilm abgeben. Man bräuchte dich nicht mal zu schminken.«
»Du bist schon ein Kasperle. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Das Ganze klärt sich bestimmt von ganz allein. In ein paar Tagen bin ich wieder okay.«
»Das hast du bei meinem letzten Besuch auch gesagt.«
Eine Sekunde lang funkelte er mich zornig an, dann flitzte er in den Flur. Man merkte bei jeder seiner fahrigen Bewegungen, dass ihm Schlaf fehlte. Ich nahm an, dass er in der Küche Bier holen wollte, aber er kehrte mit leeren Händen zurück. »Bist du wegen der Kohle hier?«
»Manchmal glaube ich wirklich, dass du ein Hellseher bist.«
»Ein Hellseher?«, wiederholte Norman und schaute abwechselnd zu Lennie und mir.
»Ja, er glaubt, dass er über übersinnliche Fähigkeiten verfügt.«
»Das glaube ich nicht bloß, das ist eine Tatsache.«
In Normans Augen sah ich Interesse aufkeimen und konnte nur mit dem Kopf schütteln. Als ich Lennie zum ersten Mal traf, hatte er mich mit haargenau denselben Sprüchen zugetextet. Bevor ich mich versah, hatte mich der Lump um fünfzig Dollar erleichtert. Doch ich ließ ihn sein Glück trotzdem versuchen. Norman war alt genug, um selbst zu wissen, worauf er sich einließ.
Lennie zwängte sich zwischen Norman und mich auf die Couch. »Seit der Kindheit verfüge ich über gewisse seherische Fähigkeiten.«
Ich lachte leise und erntete damit grimmige Blicke.
»Ignorant«, zischte Lennie und wandte sich wieder Norman zu. »Ich kann dir aus der Hand lesen, wenn du möchtest.«
»Gern, so was hat mich immer interessiert. Vielleicht kannst du mir dann auch noch ein paar andere Details verraten …«
Genauso hat er es bei mir auch gemacht, ging es mir durch den Kopf. Aber ich sagte nichts, sondern beobachtete nur, wie Norman ohne zu zögern die Hand ausstreckte.
»Du hast eine ziemlich kurze Lebenslinie«, sagte Lennie nach wenigen Sekunden. »Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, sonderlich alt wirst du nicht.«
Oh Mann.
Hatte meinem bleichen Nostradamusverschnitt noch keiner gesagt, dass man nicht gleich von Anfang an schwarzmalen sollte? Die Chance, dass der Goldesel danach noch bereitwillig den Schwanz hob, dürfte so ziemlich