mal für fünf Minuten. Unter freiem Himmel war er am einfachsten aufzuspüren, aber auch in normalen Gebäuden wollte er sich nicht verstecken. Jeder, der ihn irgendwo beobachtete, könnte einer ihrer Spione sein.
Im Schatten der Häuserschluchten eilte er weiter. Kaum eine Menschenseele begegnete ihm, und wenn, dann waren die Köpfe eingezogen und die Mantelkragen hochgeschlagen. Eine streunende Katze kreuzte seinen Weg und erschreckte ihn.
»Scheiße!«
Er zwang sich dazu, schneller zu laufen. Hinter ihm schepperte es. Hoffentlich nur eine Konservendose. Norman betete, dass ihm die Jäger nicht mehr auf der Spur waren.
Er warf einen Blick über die Schulter. Zu sehen war nichts. Aber er wusste besser als jeder andere, dass dies nichts zu bedeuten haben musste. Seit Beginn seiner Flucht hatte er sich oft in trügerischer Sicherheit gewogen. Jedes Mal war er danach nur um Haaresbreite dem Tod entkommen. Die dunklen Männer waren nicht dumm. Im Gegenteil. Diese gesichtslose Brut war teuflisch gefährlich und ebenso gewitzt.
Was passierte, wenn sie ihn in die Finger bekämen, wagte er sich nicht vorzustellen. Er hatte Andeutungen darüber gehört, und selbst wenn nur ein Bruchteil davon stimmte, gab es keinen Grund anzunehmen, dass sie ihn verschonen würden. Der Tod wäre etwas Harmloses im Vergleich zu dem, was ihn in dem Fall erwarten würde.
Drei Seitenstraßen weiter lag sein Ziel vor ihm. Ein graues Reihenhaus, so unscheinbar wie alle anderen in diesem Viertel. Doch so unscheinbar es auf den ersten Blick aussah, so wichtig war es für alle Eingeweihten. Wenn er hier auf die richtigen Leute traf, könnte das Schlimmste vielleicht noch abgewendet werden. Da hieß, sofern sie ihm glaubten.
Vor dem Eingang flackerte eine Laterne. Norman wusste, dass die gesamte Gegend mit Kameras überwacht wurde. Sicher war er längst bemerkt worden. Zu erkennen gab sich trotzdem niemand. Im Inneren des Hauses brannte kein Licht.
Erwartete ihn ein Hinterhalt? Über diese Frage dachte er seit Stunden nach. Doch er hatte den weiten Weg nicht auf sich genommen, um jetzt zu kneifen. Die Straßenlaternen zeichneten flüchtige Schatten an die Hauswände. Sein Magen verkrampfte sich.
Nur nicht die Nerven verlieren.
Die Haustür war unverschlossen. Ein weiteres schlechtes Zeichen. Drinnen tauchte ein Lichtsensor den Treppenflur in gelbes Neonlicht. Noch immer war niemand zu sehen, geschweige denn zu hören. Norman suchte alles ab und fühlte sich mit jedem Zimmer elender. Das Haus war leer. Absolut kein Hinweis mehr auf die Leute, die sich hier normalerweise aufhielten.
Verdammt! Waren sie aufgeflogen? Kampfspuren gab es keine, doch das hatte ebenfalls nichts zu sagen. Benommen taumelte er hinaus, weil er auf einmal das Gefühl hatte, im Hausflur keine Luft mehr zu bekommen. Draußen würgte er, übergab sich aber nicht. Was sollte er jetzt tun? Gerade eben hatte sich seine letzte Chance in Luft aufgelöst. Es gab keinen Ort mehr, an den er gehen konnte. Alles war verloren und die Welt dem Untergang geweiht.
»There's a devil waiting outside your door
(How much longer)
Bucking and braying and pawing the Floor
Well, he's howling with pain
and crawling up the walls«
(Nick Cave & the bad seeds: «Loverman«)
1 – Joes Bar
Laut meiner Definition bedeutete Leben den Übergang von einer Katastrophe zur nächsten. Ganz egal, ob Job oder Privatleben, du hast den einen Schlagabtausch noch nicht richtig überwunden, schon ertönt der Gong zur nächsten Runde. Mittlerweile gab es jedoch nicht mehr viel, was mir noch zusetzen konnte.
Dachte ich zumindest. Ich wohnte allein und von Frauengeschichten hielt ich mich fern. Mein Job als Gerichtsmediziner war übel, aber ich machte ihn lang genug, um zu wissen, wie ich damit umgehen musste.
Ich lebte meinen üblichen Trott und hätte nie gedacht, dass sich innerhalb einer Woche schlichtweg alles für mich verändern könnte. Doch war genau das der Fall.
Alles begann in der Kneipe meines Freundes Joe, als ich über ein weiteres Bier nachdachte. Joe war in den Fünfzigern und einer meiner treuesten Freunde. Ich kannte ihn seit Ewigkeiten. Sein faltiges Gesicht mit den grauen Haaren und dem dicken Schnauzer erinnerte mich immer an ein Walross. Außerdem schien er über übersinnliche Fähigkeiten zu verfügen, denn er schob mir das volle Glas zu, bevor ich auch nur den Mund aufgemacht hatte.
»Danke. Hast du eine Ahnung, wo Lennie heute Abend steckt?«
Joe zuckte mit den Schultern. »Der war länger nicht mehr hier. Irgendwie lässt das alles nach. Schau dich doch um. Früher war die Kneipe so voll, dass man kaum treten konnte. Jetzt wagt sich gerade mal eine Handvoll Stammgäste hierher.«
Ich ließ meinen Blick durchs Lokal schweifen und nickte. In den Achtzigern war Joes Kneipe einer der angesagtesten Schuppen überhaupt gewesen. Guns n' Roses waren hier aufgetreten, bevor sie berühmt wurden und Stadien füllten. Einmal spielte Bob Dylan ein Geheimkonzert. An den alten Glanz erinnerten nur noch blasse Fotos an der Wand rechts neben dem Eingang. Der Großteil der hier anwesenden Gäste waren arme Schlucker, die sich freuten, wenn es zum Monatsersten Geld gab. Früher war es ein Tummelplatz für Rockfans und Groupies gewesen, heute lag der Altersdurchschnitt weit jenseits der vierzig und die meisten Gäste schimpften über unfähige Politiker, gierige Banker und nervige Exfrauen. Stimmung kam – wenn überhaupt – nur an den zwei Billardtischen im hinteren Teil der Kneipe auf.
»Vielleicht stellst du ein paar junge Bedienungen ein und legst aktuelle Musik auf.« Im Moment dudelte Eric Clapton aus den Boxen, was jedoch außer Joe und mir niemand zu bemerken schien.
»Na toll, und dann mach ich auf Studentenkneipe oder was? Nee, lass mal gut sein. Ich hab ehrlich gesagt darüber nachgedacht, hier mehr auf Blues und Jazz zu setzen. Wieder mehr Livebands einzuladen.«
»Und wo sollen die spielen?«
»Da hinten, wo die Billardtische stehen.«
Ich versuchte mir auszumalen, wie die Kneipe dann aussehen würde. Einfach war es nicht, da sich in Sachen Inventar und Anordnung in den letzten zehn Jahren kaum etwas verändert hätte. Die Kneipe war definitiv nicht der schönste Ort der Welt, aber es war mein Ort und ich wusste keinen anderen, an dem ich mich lieber aufhielt.
»Wie läuft's mit deinem Job?«, fragte Joe nach einer Weile. »Immer noch so öde?«
Ich winkte ab. »Heute Morgen untersuchten wir einen Typen, der drei Monate lang tot in seiner Wohnung lag, ohne dass ihn jemand vermisst hat. Sein Körper war mumifiziert und die Organe verfault.«
»Igitt. Erspar mir bitte weitere Details.«
»Im Grunde genommen war es nicht mal so spektakulär. Er war bloß einer, um den sich niemand gekümmert hat. Da gibt es andere Sachen, die dich viel mehr den Kopf schütteln lassen. Doch glaub mir, so lang du über den ganzen Scheiß nicht groß nachdenkst und die Arbeit dort lässt, wo sie hingehört, ist alles im grünen Bereich. Trotzdem wünsche ich mir an manchen Tagen, ich hätte meinen Facharzt lieber in einer anderen Studienrichtung gemacht. Plastische Chirurgie zum Beispiel. Dann könnte ich jetzt einen fetten BMW fahren und nach Feierabend Golf spielen. Aber nein, damals war ich hoch motiviert und wollte dazu beitragen, dass die Welt besser wird.«
»Wir waren alle mal ziemlich naiv«, sagte Joe augenzwinkernd. »Ich dachte auch mal, dass ich mit dreißig meine eigene Klubkette besäße und längst ausgesorgt hätte. Und heute …«
»… machen wir einfach unsere Arbeit, weil wir nichts Anderes können«, beendete ich den Satz. Der Vorteil an meinem Job war, dass es nicht so tragisch war, wenn mal ein Schnitt zu weit oder zu tief ging. Sofern meine Kollegen und ich keine wichtige Persönlichkeit auf dem Obduktionstisch liegen hatten, kümmerte es ohnehin keinen.
Nach der Arbeit machte ich meist ein, zwei Solitär-Spiele am Computer oder hörte ein bisschen