Deborah Levy

Heim schwimmen


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kamen oder warum sie einer Fremden das freie Zimmer angeboten hatte. Als sie die Berge hinter sich gelassen, Kleingeld für die Maut hervorgekramt, sich in Vence verfahren hatte und inmitten des Verkehrs, der die Küstenstraße nach Nizza verstopfte, zu wenden versuchte, fuchtelten andere Fahrer wütend mit den Händen, hupten, kurbelten ihre Fenster herunter und schrien sie an. Von den Rücksitzen trafen sie die spöttischen Blicke gestriegelter kleiner Hunde, als hätten auch sie nur Verachtung für jemanden übrig, der in einem Gewirr von Einbahnstraßen nicht wusste, wohin.

      Sie parkte gegenüber einem Strand namens Opéra Plage und ging auf die rosafarbene Kuppel des Hotel Negresco zu, das sie von der Karte her kannte, die an das Merkblatt der Villa geklammert war. Über das Hotel Negresco, das älteste und nobelste Belle-Époque-Hotel an der Promenade des Anglais, stand im Merkblatt jede Menge. Gebaut worden war es offenbar 1912 von Henri Negresco, einem gebürtigen Ungarn, der mit diesem Hotel »die Crème de la Crème« nach Nizza locken wollte.

      Über die Straße, die sie von den vollen Stränden trennte, wehte eine Brise herüber. Dieser Schwall schmutzigen Stadtlebens hier fühlte sich besser, viel besser an als die schneidend klare Bergluft, die auch den Kummer klarer vor Augen treten ließ. Hier in Nizza, der fünftgrößten Stadt Frankreichs, konnte sie in der Masse der Urlauber untertauchen, als hätte sie keine anderen Probleme als die unverschämten Preise, die an der Riviera für das Mieten eines Liegestuhls verlangt wurden.

      Eine Frau mit einem Helm aus hennarotem, dauergewelltem Haar hielt sie an und fragte, ob sie ihr sagen könne, wie sie in die Rue François Aune komme. Die Gläser ihrer riesigen Sonnenbrille waren mit etwas verschmiert, was wie getrocknete Milch aussah. Der Akzent, mit dem sie Englisch sprach, klang für Isabel nach Russland. Die Frau deutete mit einem Finger voll schwerer Ringe auf einen Mechaniker, der in einem öl-verschmierten blauen Overall unter einem Motorrad lag – als wollte sie Isabel auffordern, für sie nach dem Weg zu fragen. Einen Augenblick verstand sie nicht, warum die Frau das von ihr verlangte, aber dann sah sie, dass sie blind war und gehört hatte, wie der Mechaniker den Motor aufheulen ließ.

      Als Isabel sich auf dem Bürgersteig hinkniete und ihm den Zettel zeigte, den die Frau ihr in die Hand gedrückt hatte, deutete er mit dem Daumen auf den Wohnblock auf der anderen Straßenseite. Die Blinde stand in der Straße, nach der sie suchte. »Sie sind da.« Isabel nahm sie am Arm und führte sie durch das Tor hindurch zu dem exklusiven Apartmentblock, dessen Fenster alle von frischgestrichenen grünen Fensterläden umrahmt waren. Drei Sprinkler bewässerten die in fein säuberlichen Reihen gepflanzten Palmen des Gemeinschaftsgartens.

      »Ich muss aber zum Hafen, Madame. Ich bin auf der Suche nach Dr. Ortega.«

      Die blinde Russin klang ungehalten, als habe man sie gegen ihren Willen zum falschen Ort gebracht. Isabel ging die Messingschilder mit den eingravierten Namen der Bewohner durch und las sie laut vor: »Perez, Orsi, Bergel, Dr. Ortega.« Da war sein Name. Hier wohnte er, auch wenn die Frau anderer Ansicht war.

      Sie klingelte bei »Dr. Ortega« und ignorierte die Russin, die jetzt hektisch in ihrer Krokodilleder-Handtasche wühlte und ein abgegriffenes Handwörterbuch hervorkramte.

      Eine sanfte spanische Stimme kam aus dem polierten Messinglautsprecher der Gegensprechanlage und fragte auf Französisch, wer sie sei.

      »Ich heiße Isabel. Eine Besucherin wartet hier unten auf Sie.«

      Sie wurde von einer Polizeisirene übertönt und musste noch einmal von vorne anfangen.

      »Sagten Sie, Ihr Name sei Isabel?« Es war eine ganz einfache Frage, doch sie machte sie nervös, als gäbe sie sich als jemand aus, der sie nicht war.

      Der Türöffner gab ein Wimmern von sich, und sie stieß die Glastür mit dem schweren, dunklen Holzrahmen auf, die in den marmornen Eingangsbereich führte. Die Russin mit der verschmierten dunklen Brille rührte sich nicht vom Fleck und wiederholte unablässig, sie wünsche zum Hafen gebracht zu werden.

      »Sind Sie noch da, Isabel?«

      Warum kam der Herr Doktor nicht die Treppen herunter und nahm die blinde Frau in Empfang?

      »Könnten Sie herunterkommen und Ihre Patientin abholen?« Sie hörte, wie er lachte.

      »Señora, soy doctor en filosofía. Sie ist keine Patientin, sondern eine Schülerin von mir.«

      Wieder lachte er. Das tiefe, rasselnde Lachen eines Rauchers. Sie beugte sich vor, um seine aus den Lautsprecherlöchern kommende Stimme besser zu verstehen.

      »Meine Schülerin möchte zum Hafen, weil sie nach St. Petersburg zurückwill. Sie hat keine Lust, zu ihrer Spanischstunde zu kommen und glaubt deshalb nicht, dass sie da ist. Ella no quiere estar aquí

      Er war charmant und zu Scherzen aufgelegt, ein Mann, der die Zeit hatte, aus der sicheren Distanz der Gegensprechanlage in Rätseln zu sprechen. Sie wünschte, sie könnte mehr wie er sein und herumalbern und sich einen Spaß mit dem machen, was der Tag ihr brachte. Wie war sie dort gelandet, wo sie jetzt war? Wo war sie eigentlich? Wie immer auf der Flucht vor Jozef. Bei diesem Gedanken brannten in ihren Augen Tränen, die sie wütend machten. Nein, nicht schon wieder, nicht Jozef, nicht schon wieder. Sie wandte sich ab und ließ die Russin stehen, die im marmornen Treppenhaus nach dem Geländer tastete und noch immer darauf beharrte, dass sie hier falsch und der Hafen ihr eigentliches Ziel sei.

      Der Himmel hatte sich verdunkelt, und sie konnte riechen, dass das Meer nicht weit war. Über ihr kreischten Möwen. Von der Boulangerie auf der anderen Straßenseite wehte über die geparkten Autos hinweg süßer Hefegeruch herüber. Familien kamen mit aufblasbaren Bällen, Plastikstühlen und farbenfrohen Handtüchern vom Strand zurück. Die Boulangerie war plötzlich voller Jugendlicher, die sich ein Stück Pizza kauften. Gegenüber ließ der Mechaniker triumphierend sein Motorrad aufheulen. Sie war noch nicht bereit, nach Hause zu gehen und eine Person zu imitieren, die sie einmal gewesen war. Stattdessen ging sie eine gefühlte Stunde die Promenade des Anglais entlang und setzte sich in eines der Strandrestaurants in der Nähe des Flughafens.

      Die startenden Flugzeuge flogen dicht über das schwarze Meer hinweg. Eine Gruppe Studenten trank auf den Kiesböschungen Bier. Rechthaberisch, auf Flirts aus, riefen sie sich Dinge zu, genossen den Sommerabend am Strand. Das ganze Leben lag vor ihnen. Neue Jobs. Neue Ideen. Neue Freundschaften. Neue Liebesbeziehungen. Sie dagegen stand mitten im Leben, war fast 50 Jahre alt und hatte durch ihre Arbeit zahllose Massaker und Konflikte erlebt, die ihr das Leid auf der Welt hautnah vor Augen geführt hatten. Sie war nicht nach Ruanda geschickt worden, um über den Völkermord zu berichten, wie zwei ihrer erschütterten Kollegen. Sie hatten ihr von einer menschlichen Tragödie unglaublichen Ausmaßes erzählt, selbst verstört, hätten sie in die verstörten Augen der Waisenkinder gestarrt. Ausgehungerte Hunde seien daran gewöhnt gewesen, Menschenfleisch zu fressen. Sie hätten über die Felder streunende Hunde beobachtet, die menschliche Teile zwischen den Zähnen gehabt hätten. Auch wenn sie die Schrecken von Ruanda nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, war sie zu tief in das Unglück dieser Welt eingetaucht, als dass sie noch einmal von vorne anfangen könnte. Wenn sie die Wahl hätte, all das wieder zu vergessen, was sie eigentlich hätte weise machen sollen, dann würde sie noch einmal ganz von vorne anfangen. Unbedarft und voller Hoffnung würde sie noch einmal heiraten und noch einmal ein Kind bekommen und mit ihrem gutaussehenden jungen Mann abends am Strand Bier trinken. Sie wären noch einmal bezauberte Anfänger, die sich unter dem strahlenden Sternenhimmel küssen. Das war das Beste, was man im Leben sein konnte.

      Eine aus Frauen und Kindern bestehende Großfamilie saß an drei zusammengeschobenen Tischen. Sie hatten alle die gleichen borstigen braunen Haare und hohen Wangenknochen und aßen in Halblitergläsern aufgeschichtetes, kunstvoll vermengtes Eis. Der Kellner zündete die Wunderkerzen an, die er in die Schlagsahne gesteckt hatte, und alle machten Ah und Oh und klatschten in die Hände. Sie fröstelte in ihrem rückenfreien Kleid, das für diese Nachtzeit zu luftig war. Die Frauen, die mit langen Silberlöffeln ihre Kinder fütterten, warfen der stumm grübelnden Frau mit den nackten Schultern misstrauische Blicke zu. Sie schienen ihr ihre Einsamkeit ebenso übelzunehmen wie der Kellner. Sie musste ihm zweimal sagen, dass sie auf niemanden warte. Als er ihren Espresso auf den leeren, für zwei gedeckten Tisch knallte, schwappte