Siri Pettersen

Die Rabenringe - Gabe (Band 3)


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hätte sie getötet, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte.«

      Rime legte eine Hand auf seine Hosentasche. Spürte die Konturen der Muschel, des Amuletts, das er ihr geschenkt hatte, damals, als sie Ymsland verließ. Jetzt gehörte es wieder ihm. Überreicht von Graal, ohne Erklärung. War das Graals Art, ihm zu sagen, dass er sie vergessen sollte? Dass sie eine halbe Totgeborene war, der ein ganz anderes Schicksal bestimmt war als Rime?

      Er hoffte es, denn die andere Möglichkeit war schlimmer: dass Hirka Graal gebeten hatte, ihm die Muschel zu geben. Dass es ihr Wunsch gewesen war.

      Die Brust wurde ihm eng. Er griff nach dem Becher und leerte ihn in einem Zug. Das Gebräu war wohltuend stark. Brannte sich seinen Weg hinunter in den Magen.

      Er hatte nicht geahnt, wie stark das Verlangen war, bis er sie wiedergetroffen hatte, in dem Raum, der vor Musik pulsierte. Der so lebendig war, voller Menskr. Odinskinder, so weit das Auge reichte. Aber er hätte genauso gut mit ihr allein sein können, denn er hatte alles und jeden um sich herum vergessen.

      Er hätte sie genommen, auf der Stelle, wenn er die Chance dazu gehabt hätte. So stark, so überwältigend war es.

       So zerstörerisch.

      Er hatte idiotische Dinge getan – ihretwegen. Dinge, die nicht nur ihn selbst vernichtet hatten, sondern die nun auch drohten den Rat zu vernichten. Ravnhov. Ymsland.

      Er hatte den Schnabel genommen. Hatte sich selbst zum Sklaven gemacht. Etwas, das er weder Jarladin noch Lindri erzählt hatte. Niemand durfte wissen, dass er eigentlich machtlos war. Graals Launen ausgeliefert.

      Graal war gefährlicher, als es Hirka bewusst war. Er würde sie beide gegeneinander ausspielen, wenn er musste. Die einzige Hoffnung war, dass auch Graal sie liebte. Rime hatte den Vaterstolz in seinen Augen gesehen. Aber auch eine hemmungslose Bereitschaft, über Leichen zu gehen.

       Dasselbe sagt sie auch über mich.

      »Ich weiß, was du bist und was nicht, Rabenträger.« Lindri füllte den Becher erneut. Er redete, als hätte er Rimes Gedanken gelesen.

      »Ich bin kein Rabenträger mehr, Lindri. Ich bin tot, nach allem, was die Leute wissen.«

      »Wenn du gestattest, Rime An-Elderin … Du hast mir erzählt, was passiert ist, und jetzt werde ich dir erzählen, was ich glaube. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und ich erinnere mich gut an den Tag, an dem du geboren wurdest. Das ist noch nicht so lange her.«

      »Das war vor fast zwanzig Wintern, Lindri.«

      Der Alte lächelte, dass die Krähenfüße sich bis zu den Schläfen hinzogen. »Das Kind, auf das alle gewartet hatten. Das Kind, von dem der Seher sagte, es werde leben. Ich dachte, was ist denn das für ein Leben für einen Jungen. Mit einer solchen Bürde aufzuwachsen. Schon am selben Tag haben sie Amulette mit deinem Bild verkauft, wusstest du das?«

      Rime wusste es nur allzu gut. Er kratzte mit dem Fingernagel an einer Kerbe im Teebecher. Sie kam ihm bekannt vor, hatte er nicht schon früher aus diesem Becher getrunken? Er nahm einen neuen Schluck. Der Geruch stach ihm in die Nase.

      »Wie ich das sehe, Rime, bist du in einem Käfig aufgewachsen. Ein Käfig, um den alle Welt dich beneidet hat, aber dennoch ein Käfig. Alles war darauf ausgerichtet, dass du einer von ihnen werden solltest. Sie haben sich geirrt. Du wurdest stark genug, um deinen eigenen Weg zu wählen. Ich billige bei Weitem nicht alles, was du getan hast, aber an deinem Willen ist nichts auszusetzen.«

      Der Wind heulte ums Haus. Lindri rieb sich die Handgelenke, als hätte ihn das Geräusch daran erinnert, wie kalt es war.

      Er fuhr fort: »Sie sagen viel über dich. Und ich selbst habe geglaubt, du seist für uns verloren. Vor allem, als du mit der angemalten Frau hierhergekommen bist. Der Tänzerin. Aber das war etwas anderes als die Lust eines jungen Mannes, nicht wahr? Ich lebe seit einem Dreivierteljahrhundert, Rime. Glaubst du, ich hätte nie etwas von Blindwerk gehört? Sie hat etwas mit dir gemacht, das weiß ich. Du brauchst mir nicht zu sagen, was. Ich vermute, du hast das gebraucht, um Hirka zu folgen. Und ja, du hast Schwarzfeuer getötet. Deinen eigenen Mester. Aber das war seine Entscheidung, nicht deine. Du wurdest getäuscht. Welcher Mann an deiner Stelle hätte nicht dasselbe getan?«

      Rime sah weg. Lindris Verständnis war schlimmer, als es seine Missbilligung hätte sein können.

      »Rime … Du bist ein junger Mann. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass es mit den Jahren einfacher wird, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, aber so ist das nicht. Im Gegenteil. Je älter man wird, desto mehr hat man gesehen. Und ich habe zu viele Leute Fehler begehen sehen, als dass ich glauben könnte, es sei einfach, sich für das Richtige zu entscheiden.«

      Rime lachte kurz. »Das ist nicht das, was sie sagt …«

      »Hirka ist nicht in Eisvaldr aufgewachsen. Du schon. Du bist ein Ratssohn. Man hat dich nie gelehrt, was das Richtige ist. Man hat dich gelehrt: Solange du es bist, der etwas tut, so lange ist es das Richtige. Die Familien sind das Gesetz. Das Gesetz sind die Familien. Trotzdem kämpfst du einen Kampf gegen dich selbst und das macht dich zu einem guten Mann, Rime. Einem starken Mann. Nur starke Männer ertragen es, alles zu verlieren.«

      »Und starke Frauen«, entgegnete Rime. Er spürte, wie seine Schultern sich senkten. Er stieß seinen Becher gegen Lindris, wie zu einem Skål. Verschüttete etwas Flüssigkeit, die in die Furchen des Holzes lief, bevor er sie wegwischen konnte.

      »Weißt du, warum sie das macht, Lindri? Weil sie glaubt, sie verhindert einen Krieg. Sie glaubt, sie kann den Blinden ihren Blutdurst ausreden. Das ist es, was sie macht. Sie glaubt, sie kann sie dazu bekehren, den Frieden zu lieben. Dummes Mädchen … Sie kann einen Stein zur Weißglut bringen und sie wird sie nur noch verrückter machen.«

      Lindri versuchte, ein Lächeln zu verbergen.

      Rime trank den letzten Rest Tee aus. »Was?«

      »Sie bringt das Beste und das Schlechteste in dir hervor, Rime.«

      Das stimmte. Aber es spielte keine Rolle mehr. Sie gehörte ihm nicht, würde es nie tun. Sie hatte sich für eine andere Welt entschieden. Für ein anderes Leben. Falls sie sich je wiedersahen, würde es auf dem Schlachtfeld sein. Er konnte nicht die Hände in den Schoß legen und tatenlos darauf warten. Er musste handeln.

      Nur vorher ein bisschen ausruhen. Hier. Am Tisch.

      »Darkdaggar hat die Kontrolle über den Rat, Lindri. Über das Heer.«

      »Ja, wem sagst du das.«

      »Aber nicht über die Schwarzröcke. Sie sind eine gefährlichere Armee als die von Mannfalla. Die einzige, die den Blinden standhalten kann. Er darf sie nicht übernehmen, Lindri.«

      Rime versuchte, seine Gedanken in Worte zu kleiden, aber sie entwischten ihm. Waren unmöglich zu greifen. Wie die Schwarzröcke. Die schwarzen Schatten, die außerhalb von Darkdaggars Reichweite waren. Aber wie treu waren sie dem Rat jetzt ergeben? Wer hatte nach Schwarzfeuer die Führung übernommen? Und wie würden sie Rime empfangen? Den Mann, der seinen eigenen Mester getötet hatte. Ihren Mester.

      »Bin ich noch ein Schwarzrock? Was denken sie jetzt über mich?«

      »Das kann man nicht wissen, Rime.«

      »Ich muss es herausfinden. Ich habe keine andere Wahl.«

      »Das kannst du morgen auch noch.«

      Rime spürte eine Wolldecke um die Schultern und begriff, dass er dabei war, einzuschlafen.

      Ein Problem

      Dichter Schneefall machte es schwierig zu sehen, wohin man die Füße setzte. Der Wind war schärfer geworden, ging bis auf die Knochen. Hirka hatte jedes Kleidungsstück angezogen, das sie besaß.