Inka Loreen Minden

Ein Lord wie kein anderer


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ihrer Mutter über die Mauer: »Lord Hastings, ist Emily bei Ihnen?«

      Mist, sie musste ihr Lachen gehört haben.

      »Ja, sie ist hier, Lady Collins!«, antwortete er.

      Auch wenn Emily ihre Mutter nicht sehen konnte, wusste sie genau, was für ein entsetztes Gesicht sie gerade machte. »Emily, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du unsere Nachbarn nicht belästigen sollst!«

      »Sie stört mich nicht, Lady Collins!«, rief er ihrer Mutter zu. »Wir unterhalten uns über … Geschichte. Griechische Geschichte!«

      Das schien ihre Mutter zufriedenzustellen, wobei Emily glaubte, dass sie Daniel bald aus anderen Gründen nicht mehr im Garten besuchen durfte – außer mit Anstandsdame –, schließlich war er beinahe ein richtiger Mann. Zum Glück dauerte es noch ein paar Jahre, bis sie eine richtige Frau wurde. Diesen Vorteil musste sie ausnutzen, so lange es ging.

      Emily glaubte, ein »Hmpf« über die Mauer zu vernehmen, dann: »Bitte komm in fünf Minuten in den Gelben Salon, um dich von Lady Nelson zu verabschieden.«

      Wenigstens war ihre Gouvernante gerade nicht im Haus. Mutter hätte sie sonst bestimmt rübergeschickt, um sie abzuholen. Aber im Grunde war Emily froh, eine solch gute Lehrerin zu haben, denn in einer öffentlichen Schule würde sie nur Nähen und Orthografie lernen. Dabei konnte sie beides längst, schließlich musste sie seit ihrem sechsten Lebensjahr täglich fünf Minuten in der Anstandsfibel lesen. Ihre Gouvernante – Miss Abney – brachte ihr zusätzlich das Tanzen und sogar Gymnastik bei – was eine hervorragende Vorbereitung war, um auf Bäume zu klettern – außerdem Französisch, Naturwissenschaften und Künste. Miss Abney war ein ziemlicher Blaustrumpf – und Emily liebte sie dafür.

      »Ja, Mutter, ich komme in fünf Minuten!«, gab sie zerknirscht zurück. Gerade war es doch so schön mit Daniel.

      »Ich wünsche Ihnen und Ihren Eltern noch einen wundervollen Tag, Lord Hastings!«, rief ihre Mutter.

      »Den wünsche ich Ihnen auch, Lady Collins!«

      Als sich Emily wieder allein mit Daniel glaubte, verschränkte sie mürrisch die Arme und ließ sich schnaubend auf die Bank fallen. Sie war eben genau das Gegenteil von dem, was die Gesellschaft von ihr verlangte. Frauen sollten sanft und gehorsam sein und sich dem Willen des Vaters und später des Ehemannes beugen. Sie liebte ihre Mutter sehr und wurde von ihr genauso herzlich zurückgeliebt. Die Ärzte nannten es ein Wunder, dass ihre Mutter nach zwei Totgeburten und in ihrem späten Alter noch ein gesundes Kind bekommen hatte – das verband sie beide wohl eng miteinander. Aber wenn Mutter sie belehrte, wollte sich Emily am liebsten die Ohren zuhalten. »Sei stets bescheiden, mein Kind, freundlich, höflich und zurückhaltend, dann wirst du später schnell einen Mann finden. Mische dich vor allem nicht in die Politik ein, sondern rede lieber über Mode. Alles andere könnte einen potentiellen Heiratskandidaten abschrecken.«

      Daniel schreckte nichts ab, egal worüber sie mit ihm sprach! Oder er war ein wahrer Gentleman. Zumindest verwendete er oft ein geziemendes Vokabular, war gebildet, wies ein gepflegtes Äußeres auf … und gewiss war er der beste Tänzer der Welt. Letzteres konnte sie leider nicht beurteilen. Doch sobald sie Miss Abney bei den wöchentlichen Übungen nicht mehr auf die Füße trat, wollte sie Daniel um einen Tanz unter dem Apfelbaum bitten, während seine Mutter im Haus Cembalo spielte. Oh, das würde bestimmt traumhaft werden!

      »Mütter können ganz schön lästig sein, was?«, murmelte er und blickte sich erneut um, als würde er befürchten, das ganze Gerufe hätte seine Eltern auf ihn aufmerksam gemacht. Doch seine Mutter saß immer noch am Klavier und sein Vater bestimmt an seinem großen Schreibtisch, um sich um die Geschäfte zu kümmern. Emily hatte zwar keine Ahnung, was ein Earl arbeiten musste, aber das war jetzt auch nebensächlich. Hauptsache, er störte sie nicht.

      Als sich Daniel durch sein dichtes Haar fuhr und es ein wenig durcheinanderbrachte, kitzelte es erneut in ihrem Bauch, sodass sie ihren hübschen Lord anstrahlen musste. Er lieh ihr dieses wertvolle Buch und hatte ihre Mutter angeschwindelt!

      Daniel war so süß … ihr Held!

      Emily wusste eines ganz sicher: Sobald sie sechzehn und in die Gesellschaft eingeführt wurde, würde sie ihn heiraten.

      Kapitel 2 – Das Vorstellungsgespräch

      LONDON, ENGLAND

      Mai 1834

      Emily klopfte das Herz bis in den Hals, als sie an der Tür der noblen Villa klopfte, die im besten Stadtteil Londons lag. Das große, elfenbeinfarben gestrichene Haus besaß eine quadratische Form, hohe, rechteckige Fenster und auf der linken Seite einen runden Erker. Der zog sich vom Erdgeschoss bis hinauf zum flachen Dach und erinnerte Emily an ein Türmchen. Um das gesamte Grundstück führte ein hoher, weiß gestrichener Zaun sowie ein großzügiger Garten. Nur die wenigsten Bewohner konnten sich mitten in London solch ein prachtvolles Haus leisten.

      Würde Daniel – der Earl of Hastings – sie wiedererkennen? Was, wenn er sie genau aus diesem Grund nicht beschäftigen wollte oder wenn er wusste, wen sie geheiratet hatte?

      Es war ihr peinlich, bei ihm vorzusprechen, aber Emily brauchte die Anstellung dringend. Sie konnte und wollte ihrer Freundin nicht länger auf der Tasche liegen, auch wenn Claire ihr versichert hatte, dass das in keinster Weise der Fall war. Doch es wurde längst Zeit, endlich auf eigenen Beinen zu stehen – schließlich war sie schon achtundzwanzig Jahre alt!

      Sie strich ihr einfaches cremeweißes Kleid glatt, froh, Handschuhe zu tragen, die ihre feuchten Hände verbargen, richtete ihre Haube und hielt die Luft an, als ihr ein grauhaariger Butler öffnete. Er konnte kaum noch gerade stehen, aber der Blick aus seinen wässrigen Augen war scharf auf sie gerichtet. »Sie wünschen?«

      Emily räusperte sich leise. Sie kannte den Mann! Es war derselbe, der auch schon für Daniels Eltern gearbeitet hatte. »Ich komme wegen der ausgeschriebenen Stelle. Mein Name ist Mrs Rowland.«

      Sie benutzte bewusst nicht ihren Titel, um bloß kein Aufsehen zu erregen und zu verraten, wer sie wirklich war. Zum Glück war ihr Ehemann in London nicht allzu bekannt gewesen und seine wenigen »Freunde« hatten ihn »Edward« oder »Ed« gerufen.

      Der Butler trat zur Seite und bat sie mit einer Handbewegung ins Haus. »Bitte folgen Sie mir, Mrs Rowland.«

      Sie wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, und schritt langsam hinter ihm her. Sie hatte jedoch kaum Blicke für den leicht gebückt laufenden Bediensteten übrig, denn die Einrichtung des Hauses erweckte ihr Interesse. Wie in den meisten noblen Anwesen war auch dieser Eingangsbereich schachbrettartig gefliest. Antike, vermutlich römische und griechische Statuen standen hier und da auf Säulen verteilt; fliederfarbene Tücher schmückten die Wände. Emily erkannte definitiv eine weibliche Note, aber auch Daniels Geschmack und sein Faible für alte Kulturen.

      Als der Butler sie in einen kleinen bordeauxfarbenen Salon brachte, stockte ihr Herzschlag und ihre Hoffnung auf eine Anstellung sank gen null. Bestimmt zehn weitere Frauen, junge wie alte, saßen auf den edlen Polstern, nippten schweigend an ihren Teetassen und starrten sich böse an, als ob das helfen würde, ihre Konkurrentinnen aus dem Spiel zu nehmen.

      Oh nein, sie war also nicht die Einzige, die sich eine gut bezahlte Arbeit bei Daniel … bei dem Earl of Hastings erhoffte. Wie hatte sie das auch nur glauben können?

      Meistens erhielten Kindermädchen nicht mehr als Kost und Logis. Aber in der Anzeige, die Emily gestern in der Zeitung »The Times« gefunden hatte, stand etwas von einer großzügigen, monatlichen Apanage, mit der sie sich schon nach wenigen Jahren in Daniels Diensten ein neues Leben aufbauen könnte. Denn erneut zu heiraten, kam für sie nicht in Frage.

      Sie setzte sich auf den letzten freien Platz des Sofas, woraufhin sie von einer fülligen Alten und einer biestig dreinschauenden Jüngeren eingerahmt wurde. Emily lächelte müde und nickte den Damen zu, danach ließ sie sich von einem anderen Diener, der hier bereitstand, Tee einschenken, den sie dankend entgegennahm.

      Vielleicht sollte sie lieber gleich