Georges Simenon

Maigret beim Minister


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      »Nein, ich war nicht einmal Mitglied der parlamentarischen Kommission, die die Kredite bewilligt hat. Genau genommen wusste ich bis vor wenigen Tagen von der ganzen Sache nur das, was alle Welt aus der Zeitung weiß.«

      Er machte eine Pause und fuhr dann fort:

      »Haben Sie von dem Calame-Bericht gehört, Kommissar?«

      Maigret sah ihn überrascht an und schüttelte den Kopf.

      »Sie werden noch davon hören. Sie werden mehr als genug davon hören. Wahrscheinlich lesen Sie nicht die kleinen Klatschblätter wie zum Beispiel La Rumeur

      »Nein, nie.«

      »Kennen Sie Hector Tabard?«

      »Dem Namen und dem Ruf nach. Meine Kollegen in der Rue des Saussaies kennen ihn bestimmt besser als ich.«

      Er spielte auf die Sûreté an, die unmittelbar dem Innenministerium unterstand und oft mit mehr oder weniger politischen Angelegenheiten zu tun hatte.

      Tabard war ein zweifelhafter Journalist, dessen Wochenzeitung nur Gerüchte enthielt und als Erpresserblatt galt.

      »Lesen Sie das hier. Es ist sechs Tage nach der Katastrophe erschienen.«

      Es war kurz und geheimnisvoll.

      Wird man sich unter dem Druck der öffentlichen Meinung eines Tages entschließen, den Inhalt des Calame-Berichts bekanntzugeben?

      »Ist das alles?«, fragte der Kommissar verwundert.

      »Hier ein Auszug aus der folgenden Nummer.«

      Entgegen der allgemeinen Annahme wird die gegenwärtige Regierung weder wegen einer außenpolitischen Frage noch wegen der Ereignisse in Nordafrika bereits vor Ende des Frühlings gestürzt werden, sondern wegen des Calame-Berichts. Wer besitzt den Calame-Bericht?

      Die Worte Calame-Bericht klangen fast komisch, und Maigret lächelte bei der Frage:

      »Wer ist Calame?«

      Point dagegen lächelte nicht. Während er seine Pfeife in einen großen Messingaschenbecher entleerte, erklärte er:

      »Ein Professor an der Hochschule für Straßen- und Brückenbau. Er ist vor zwei Jahren gestorben, an Krebs, wenn ich mich nicht irre. Sein Name ist der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, aber in der Welt des Bauwesens ist er berühmt. Calame ist als Berater bei Großprojekten in so verschiedenen Ländern wie Japan oder Südamerika hinzugezogen worden, und er war eine unumstrittene Autorität auf dem Gebiet der Baumaterialien, vor allem des Betons. Er hat ein Buch geschrieben, das weder Sie noch ich gelesen haben, das aber alle Architekten besitzen. Sein Titel lautet Die Krankheiten des Betons

      »War Calame am Bau von Clairfond beteiligt?«

      »Indirekt. Lassen Sie mich Ihnen die Geschichte anders erzählen, nach einer persönlicheren Chronologie. Als sich die Katastrophe ereignete, wusste ich wie gesagt über das Sanatorium nur das, was in den Zeitungen stand. Ich erinnerte mich nicht einmal, ob ich fünf Jahre zuvor für oder gegen das Projekt gestimmt hatte. Ich musste erst im Officiel nachlesen, dass ich dafür gestimmt hatte. Auch ich lese La Rumeur nicht. Erst nach der zweiten Veröffentlichung dort hat mich der Ministerpräsident beiseitegenommen und gefragt:

      ›Kennen Sie den Calame-Bericht?‹

      Ich habe ihm ehrlich mit Nein geantwortet. Er schien überrascht, und ich bin nicht sicher, ob er mich nicht mit einem gewissen Misstrauen angeblickt hat.

      ›Er muss sich aber doch in Ihrem Archiv befinden‹, hat er dann gesagt.

      Und er hat mir berichtet, dass im Zuge der Debatten über Clairfond vor fünf Jahren, als die parlamentarische Kommission gespalten war, irgendein Abgeordneter vorgeschlagen hat, von einem bedeutenden Bausachverständigen ein Gutachten anzufordern.

      Er hat den Namen Julien Calame von der Hochschule für Straßen- und Brückenbau genannt. Dieser hat eine Weile die Baupläne studiert und ist dann sogar selbst in die Haute-Savoie gefahren, um sich das Ganze vor Ort anzusehen.

      Daraufhin hat er einen Bericht verfasst, der die Kommission erreicht haben müsste.«

      Maigret glaubte zu verstehen.

      »War der Bericht ungünstig?«

      »Warten Sie. Als der Ministerpräsident mir von der Sache berichtete, hatte er schon Recherchen in den Archiven der Kammer angeordnet. Man hätte den Bericht in den Akten der Kommission finden müssen. Aber nicht nur dieser, sondern auch ein Teil der übrigen Unterlagen war verschwunden.

      Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«

      »Dass einige daran interessiert sind, dass der Bericht niemals veröffentlicht wird?«

      »Lesen Sie hier.«

      Es war ein neuer Auszug aus La Rumeur, ebenfalls kurz, aber nicht weniger drohend.

      Wird Arthur Nicoud mächtig genug sein, um das Erscheinen des Calame-Berichts zu verhindern?

      Maigret kannte diesen Namen, wie er hundert andere kannte. Er kannte vor allem die Firma Nicoud et Sauvegrain, weil man das Firmenschild fast überall sah, wo Straßen, Brücken oder Schleusen gebaut wurden.

      »Das ist das Bauunternehmen, das Clairfond erbaut hat.«

      Maigret begann zu bereuen, dass er gekommen war. Bei aller Sympathie, die er für Auguste Point empfand, die Geschichte, die er ihm da erzählte, bereitete ihm ebenso viel Unbehagen, wie wenn jemand im Beisein einer Frau einen anzüglichen Witz erzählt. Widerwillig versuchte er, Points Rolle in dieser Tragödie zu erraten, die hundertachtundzwanzig Kinder das Leben gekostet hatte. Fast hätte er ihn rundheraus gefragt:

      »Was haben Sie damit zu tun?«

      Er ahnte, dass Politiker, vielleicht sogar Persönlichkeiten in hohen Positionen darin verwickelt waren.

      »Ich werde versuchen, mich kurzzufassen. Der Ministerpräsident hat mich also gebeten, genaue Nachforschungen im Archiv meines Ministeriums anzustellen. Die Hochschule für Straßen- und Brückenbau untersteht dem Ministerium direkt. Logischerweise müsste es irgendwo in unseren Akten zumindest eine Abschrift des Calame-Berichts geben.«

      Wieder der berühmte Calame-Bericht.

      »Haben Sie nichts gefunden?«

      »Nichts. Vom Keller bis unters Dach sind Tonnen verstaubter Akten durchstöbert worden – ohne Ergebnis.«

      Maigret begann unruhig auf seinem Sessel hin- und herzurutschen, was seinem Gesprächspartner nicht entging.

      »Sie mögen Politik nicht?«

      »Das kann man wohl sagen.«

      »Ich auch nicht. So seltsam es scheinen mag: Ich habe mich vor zwölf Jahren zur Wahl gestellt, um gegen die Politik zu kämpfen. Und als man mich vor nunmehr drei Monaten aufgefordert hat, Kabinettsmitglied zu werden, tat ich es immer noch in der Hoffnung, ein wenig Sauberkeit in die öffentlichen Angelegenheiten bringen zu können. Meine Frau und ich sind einfache Leute. Sie sehen ja die Wohnung, in der wir während der Sitzungsperioden der Kammer leben, seit ich Abgeordneter bin. Es ist eigentlich mehr eine Junggesellenbude. Meine Frau hätte in La Roche-sur-Yon bleiben können, wo wir unser Haus haben, aber wir sind es nicht gewöhnt, uns zu trennen.«

      Er sprach natürlich, ohne jede Sentimentalität.

      »Seit ich Minister bin, wohnen wir offiziell im Ministerium am Boulevard Saint-Germain, aber wir flüchten so oft es geht hierher, vor allem sonntags.

      Nun, das ist ja unwichtig. Ich habe Sie aus einer öffentlichen Telefonzelle angerufen, wie Ihre Frau Ihnen sicher berichtet hat, denn Sie haben, wenn ich mich nicht irre, die gleiche Art von Frau wie ich. Ich habe es getan, weil ich der Telefonzentrale im Ministerium misstraue. Ich glaube – ob zu Recht oder Unrecht, weiß ich nicht –, dass meine Telefongespräche aus dem Ministerium, vielleicht sogar die aus dieser Wohnung, irgendwo aufgezeichnet werden, und ich will lieber gar nicht wissen, wo. Ich sage