begnadeten Flieger Simon Ammann mithilfe eines Materialkniffs für den Sonntag noch einmal neues Leben einzuhauchen. Nachdem das zumindest einen Durchgang lang geklappt hatte, kam es im Umziehcontainer noch zu einem emotionalen Gespräch. Ammann, der in meine Situation eingeweiht war, sagte zu mir: »Werner, bleib doch bei uns.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Eigentlich ist es mir auch egal, wenn du gehst. Ich bin dir dankbar für deine Impulse. Ich weiß, was ich zu tun habe und werde den Weg mit dir oder auch ohne dich fortsetzen.« Das saß und beeindruckte mich nachhaltig. Ammann wurde zwei Jahre später Doppelolympiasieger, Skiflugweltmeister und Gesamtweltcupsieger. Trotz mir oder wegen mir, das werden wir wohl nie erfahren.
Training mit Simon Ammann im Dezember 2007 in Engelberg
Nach Gesprächen mit meiner Familie und meinen engsten Freunden sagte ich in Deutschland zu. Wieder mit dem Gefühl, ein überschaubares Risiko einzugehen, da ich im Falle eines Scheiterns nach Stams zurückkehren konnte. Weiters wuchs die Überzeugung, dass es, berücksichtigte man die Treue, mit der der Deutsche Skiverband seine Trainer behandelte, eine einmalige Chance war, die sich zudem finanziell auszahlte. Ich sagte Horst Hüttel zu.
Die Arbeit in der Schweiz musste noch sauber abgeschlossen werden, und ich fuhr eines Morgens Ende März um sechs Uhr früh zu Hause los, um rechtzeitig bei der Saisonanalyse in Einsiedeln in der Schweiz zu sein. Die Autofahrt kam mir ewig lang vor, schließlich fuhr ich die Arlbergstrecke zum gefühlt hundertsten Mal. Dabei wälzte ich alle verfügbaren Argumente zum wiederholten Male hin und her, immer in der Hoffnung auf ein Aha-Erlebnis und vollste Überzeugung und Zufriedenheit. Stattdessen kamen wieder größere Zweifel auf, und ich wollte plötzlich doch noch alles rückgängig machen. Hektisch verließ ich auf halber Strecke kurz nach dem Grenzübergang in Feldkirch die Autobahn, steuerte einen Parkplatz an und zückte mein Handy. Um kurz vor halb acht klingelte ich Horst Hüttel aus dem Bett und teilte ihm mit, dass ich in der Schweiz bleiben werde.
»Spinnst du«, entgegnete er mit forscher Stimme und bot seine ganze Überzeugungskraft auf, um mich zu beruhigen. Ich machte einen Rückzieher vom Rückzieher, brachte die Analysesitzung in der Schweiz professionell über die Bühne und kehrte gedämpft, aber auch irgendwie erleichtert am Abend in den Schoß der Familie zurück.
Die Entscheidung war gefallen, und das Abenteuer konnte beginnen.
OSKAR HANDOW
Der 11. August 2010 ist ein sonniger und warmer Tag. Ich fahre frühmorgens zusammen mit Jens Geist, dem leitenden Trainingswissenschaftler des Olympiastützpunktes Bayern, von München ins Allgäu. Dort sollen wir um neun Uhr Werner Schuster treffen, der an sportpsychologischer Unterstützung interessiert ist.
Während meines Psychologiestudiums habe ich Sportpsychologen kennengelernt und dieses Tätigkeitsfeld für mich entdeckt. So machte ich mich 1999 in diesem Bereich selbstständig – lernte aber schnell, dass man von der Sportpsychologie allein nicht leben kann. Insofern ist mein Haupttätigkeitsfeld bis heute die Personalauswahl und -entwicklung für Firmen und Konzerne. Die Arbeit mit Sportlern ist aber immer eine Leidenschaft geblieben und füllt etwa 20 Prozent meiner Arbeitszeit. Zum Zeitpunkt der Anfrage von Werner hatte ich bereits mit Sportlern von gut zwei Dutzend verschiedenen Sportarten gearbeitet. Darunter auch Biathlon und Ski alpin, sodass mir auch der Deutsche Skiverband und seine Strukturen schon bekannt waren. Aufgewachsen mit dem jährlichen Ritual der Vierschanzentournee zum Jahreswechsel, freute ich mich besonders auf dieses Kennenlernen.
Werner sitzt schon am vereinbarten Treffpunkt, der Terrasse eines Klubhauses einer Golfanlage, als wir ankommen. Er begrüßt uns offen und herzlich. Von Anfang an ist er sehr direkt und fühlt mir auf den Zahn. Ich erlebe einen offensiven, charismatischen und sehr fordernden Gesprächspartner, der klare Vorstellungen einer möglichen Zusammenarbeit hat (und natürlich auch entsprechendes Vorwissen und Vorerfahrungen). Es sollte der Beginn der längsten und fruchtbarsten Zusammenarbeit mit einem Bundestrainer in meinen bisherigen gut 20 Jahren als Sportpsychologe sein – auch wenn das damals noch nicht absehbar war.
Zu Beginn musste ich mir wiederholt die mangelnde Feldkompetenz in der komplexen Sportart Skispringen vorwerfen lassen. Analogien aus anderen Sportarten kamen eher schlecht an. Aber im Laufe der Zeit gelang es mir, einen Beitrag zum Gesamtsystem zu leisten. Dieser ist in der Sportpsychologie nie messbar – aber es ist ein Mosaikstein des Gesamtbildes. Für manche Athleten ein kleiner Baustein, für andere vielleicht sogar das zentrale Element der Leistungserbringung. Für die Trainer, die oftmals Themen mit sich allein ausmachen müssen, kann es gerade in schwierigen Situationen eine hilfreiche Unterstützung sein.
Im Laufe der Jahre durfte ich immer mehr über Werner und seine Herkunft, seine Familie und seine Werte und Ansichten erfahren. Ein Einzelkind, das frei und behütet zugleich aufwachsen durfte. Mit einem gesunden Selbstbewusstsein, ohne dabei überheblich zu sein. Neugierig und interessiert – dabei aber auch immer skeptisch (und manchmal auch spöttisch). Und Sportler durch und durch.
Die Psychologie ist die Wissenschaft, die sich mit dem Erleben und Verhalten von Menschen beschäftigt. Dieses Erleben und Verhalten ist stark geprägt von unserer Sozialisation und der daraus resultierenden Persönlichkeit. Insofern ist es von großer Bedeutung, mehr über die Person und deren individuelle Lerngeschichte zu erfahren. Umso passender können dann Ideen und Maßnahmen generiert werden.
Wenn man Werners Biografie liest, erschließt sich vielleicht im Nachgang die eine oder andere Vorgehensweise noch besser, die man am Bildschirm miterleben konnte. Auf jeden Fall aber lässt er uns hier in sehr persönlicher Weise an seiner Prägung teilhaben. Dies erlebe ich als beileibe nicht selbstverständlich. Vor allem zeigt es aber auch einen sehr reflektierten Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte und deren Auswirkungen auf das eigene Denken und Handeln.
KAPITEL 2
AM ANFANG STEHT DAS SYSTEM
Ausgangssituation analysieren
Die Auftakt-PK – Der Feind in meinem Bett – Wer schreibt, der bleibt – Ost und West
Es ist der 1. April 2008. Der Deutsche Skiverband lädt in seinem Hauptquartier in Planegg zur Pressekonferenz zur Vorstellung des neuen sportlichen Leiters und des neuen Bundestrainers der Sparte Skispringen. Der Andrang ist riesig, und es wird schnell klar, dass hier niemand an einen Aprilscherz geglaubt hat. Die Vorstellung der verantwortlichen Personen in dieser für den Verband wirtschaftlich bedeutungsvollen Sportart ist Chefsache. Der Präsident Alfons Hörmann und der Generalsekretär Thomas Pfüller begleiten uns aufs Podium. Moderiert vom erfahrenen Medienverantwortlichen Ralph Eder, der in den kommenden Jahren noch einer meiner wichtigsten und wertvollsten Ansprechpartner werden sollte, legen wir los.
Ich fühle mich fast ein wenig bedroht. Konnte ich an der Anzahl der Anrufe, die ich in den letzten Tagen verhallen ließ, das große Interesse schon erahnen, übertrifft die Journalistenmenge, die sich um die vordersten Plätze balgt, meine kühnsten Erwartungen. Nach den salbungsvollen Eröffnungsworten der obersten Riege bekomme ich das Wort und darf skizzieren, wie ich mir den Wiederaufbau von Skisprungdeutschland vorstelle. Ich versuche, kraftvolle Ansagen und Versprechungen zu vermeiden, und verweise auf die prekäre Nachwuchssituation in Deutschland. Das ist mein Kernthema, von dem ich am meisten verstehe. Schließlich habe ich knapp zehn Jahre damit verbracht und weiß, dass in Deutschland de facto eine ganze Generation fehlt. Ziel müsse es sein, die etablierten Springer noch einmal an ihre Leistungsgrenze zu führen und parallel dazu ein neues junges Team aufzubauen. Dies benötige Zeit und Geduld, und die versuche ich blauäugig einzufordern. Meine Referenz, Jugendtrainer eines Gregor Schlierenzauer gewesen zu sein, sollte mir zu Glaubwürdigkeit und einer gewissen Frist verhelfen.