Tag für Tag, Wochenende für Wochenende, Winter für Winter am Mahdtalegg.
Mein Vater Willy (links) mit der stolzen Truppe des SV Casino Kleinwalsertal
Als Schüler wollte ich nur eines: Skispringen
Mein Vater, geboren 1937, ist ein waschechter »Walser«. Er wuchs auf einem kleinen Bauernhof mit vier älteren Brüdern und einer Schwester auf, die alle noch gemeinsam in der Stube musizierten. Die Musik sollte auch ein großes Standbein in seinem Leben bleiben. Die älteren Brüder waren allesamt begeisterte Skifahrer – ihn jedoch zog es zum Skispringen, was ihm aber im Alter von elf Jahren von seinem strengen Vater verboten wurde. Der Traum vom Fliegen ließ ihn jedoch nie los, und als er sein erstes Geld verdiente, versuchte er im Alter von 19 diesen Traum zu verwirklichen. Mit ein paar Gleichgesinnten brachte er sich unter erschwerten Bedingungen die Grundbegriffe des Skispringens bei und schaffte es mit großem Fleiß und der notwendigen Kombination aus Mut und Talent 1962 als erster Vorarlberger in den Nationalkader. Obwohl ihn der damalige Nationaltrainer Sepp Bradl angesichts seines vergleichsweise hohen Alters auslachte, hielt er hartnäckig an seinem Traum fest, schaffte es 1964 und 1968 als Vorspringer zu den Olympischen Spielen und 1966 zu den Weltmeisterschaften nach Oslo, wo er den 24. Platz belegte. 130 Meter als persönlicher Weitenrekord war für die damalige Zeit mit Skihose, Pullover und Zipfelmütze ebenso eine bemerkenswerte Leistung.
Was mich im Nachhinein am meisten beeindruckt an der Lebensleistung meines Vaters ist die Vielseitigkeit und Fähigkeit, Dinge zu tun, ohne viel zu reflektieren, ob es das wert ist, ob man sich blamieren könnte oder ob man genügend dafür bezahlt bekommt. Den Skisprungverein leitete er mehr oder weniger ehrenamtlich. Die jährliche Entschädigung durch den Skiklub wog den Aufwand nicht im Geringsten auf. Er hat es auch für mich getan, aber in erster Linie für die Sache.
Leider habe ich nicht alle Talente meines Vaters geerbt, aber sein Wirken hat es mir ermöglicht, unser Hobby zum Beruf machen zu können. Er hat mir die Welt gezeigt und die Basis für mein Wirken gelegt.
Aber ohne meine Mutter wäre das alles nicht möglich gewesen. Yin und Yang. Meine Mutter, 1945 geboren, wuchs ebenfalls im Kleinwalsertal auf. Ihre Familie lebte in einfachen Verhältnissen, die Grundbedürfnisse waren abgedeckt und die Kindheit wurde als glücklich erlebt. Obwohl sie keine spezifischen sportlichen Wurzeln hatte, lernte sie meinen Vater kennen und lieben und heiratete ihn in jungen Jahren. Das ist schon mehr als 50 Jahre her.
Gemeinsam gingen meine Eltern durchs Leben. Die Vermietung der Privatzimmer und später der Ferienwohnungen war das Metier meiner Mutter, und das betrieb sie mit einer derartigen Herzlichkeit, dass sich in kurzer Zeit ein Stamm an Gästen entwickelte, der gerne wiederkam. Und das 40 Jahre lang.
Sie musste viel verzichten, auf ihren Mann und ab meinem 14. Lebensjahr auf mich. Die Lebensleistung meiner Mutter habe ich erst spät zu schätzen begonnen. Der Familie nahezu alle eigenen Bedürfnisse unterzuordnen und alle Schritte mit einer Selbstverständlichkeit und Uneigennützigkeit mitzutragen. Positiv denkend, sich an Kleinigkeiten erfreuend, tiefgreifend dankbar – eine einzigartige Kombination.
Ich war sportlich zu Schülerzeiten sehr erfolgreich. Regional in meinem Jahrgang meist der Beste und auch überregional auf dem Podium. Schnell war klar, dass ich nur eines wollte: nach oben. Der Entschluss, mit 14 Jahren nach Stams ins Schigymnasium zu gehen, war gefasst, und einen Plan B hatte ich nie. Das schien mir nicht notwendig. Zu einseitig verlief mein Weg.
Zwei Stunden von zu Hause weg ein Internat zu besuchen machte mir keine Angst. Ich war viel unterwegs gewesen in jungen Jahren, und der Begriff Heimweh hatte für mich keine Bedeutung. Das Ziel, Skispringer zu werden, war so groß, dass ich bereit war, dem alles unterzuordnen. Freunde zu treffen hat mich nicht sonderlich interessiert. Der Sport war mein Leben.
Im Internat angekommen war vor allem das erste Jahr eine schwierige soziale Erfahrung. Im Viererzimmer, auf engstem Raum zusammenlebend, kommt es schnell zu Reibereien und Hierarchiekämpfen. Schlitzohrigkeit und Streitkultur waren bei mir unterentwickelt. Wo hätte ich das auch lernen sollen? Als Einzelkind in einer intakten Familie aufgewachsen hatte ich derartige Fähigkeiten bis dahin nie gebraucht. Das wurde mir jetzt zum Verhängnis, denn im Internat war ich weit weg von zu Hause, und ich musste mich alleine durchkämpfen. Schnell war ich auf die Palme zu bringen und reagierte jähzornig und trotzig. Sportlich lief das erste Jahr auch nicht herausragend, was meinem Status ebenfalls nicht gerade dienlich war. Aber ich wollte keine Hilfe von zu Hause und habe versucht, die Situation alleine durchzustehen und bestmöglich zu lösen. Im Nachhinein gesehen war diese Zeit eine wertvolle Erfahrung.
Im zweiten Jahr gab es einen Trainerwechsel. Alois Lipburger, ein ehemaliger Spitzenspringer, WM-Zweiter von 1978, kam ans Schigymnasium. Liss, wie wir ihn nannten, war Vorarlberger wie ich, und ich habe ihn schon in jungen Jahren bewundert. Das wären doch glänzende Voraussetzungen gewesen, um den nächsten Schritt zu machen. Aber auch er konnte auf Anhieb keine Wunder bewirken. Ich war jetzt in der Jugendklasse angekommen und die Herausforderung, mich auf den größeren Anlagen mit Jahrgangsälteren zu messen, bereitete mir Schwierigkeiten.
Liss war nicht nur unser Trainer, sondern auch Erzieher im Schigymnasium. Eines Abends kam er in mein Zimmer und bat mich zum Gespräch. In aller Ruhe erklärte er mir, wo er mein Potenzial sah und welche Defizite es auszumerzen galt. Er vermittelte mir überzeugend, dass er an mich glaubte und dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann ich durchstarten würde.
So hatte noch nie zuvor ein Mensch mit mir gesprochen. Ich entwickelte ein tiefes Vertrauen in seine Person und seine Worte. Alle Restzweifel waren beseitigt, und auch kleinere Rückschläge warfen mich nicht mehr so schnell aus der Bahn. Immer vorwärts mit der unbeirrbaren Überzeugung, dass sich der Erfolg einstellen wird.
Er hatte nicht nur mit mir so gesprochen. Auch meine Teamkollegen machten große Fortschritte. Wir entwickelten uns dank ihm in eine unglaubliche Truppe, europaweit gefürchtet. Der Alpencup, ein grenzüberschreitender Jugendwettbewerb, war fest in österreichischer Hand.
An ein Springen erinnere ich mich ganz besonders. Wir waren in Frankreich, genauer gesagt in Autrans, einem kleinen Ort südlich von Grenoble. Nach einer mehr als achtstündigen Anreise im Kleinbus hatten wir uns gefreut, endlich auf der Schanze unserer liebsten Beschäftigung nachzugehen. Leider machte uns der Wind einen Strich durch die Rechnung, und die Jury sagte das Training ab mit dem Hinweis, dass am Wettkampftag besseres Sprungwetter herrschen würde. Ich war in meinem Leben noch nie bei so viel Wind gesprungen und ehrlicherweise froh über die Absage gewesen. Liss jedoch war mit der Vorgehensweise der Verantwortlichen überhaupt nicht einverstanden und trommelte uns zusammen. »Jungs, wir fahren doch nicht acht Stunden, um Däumchen zu drehen! Wir ziehen uns jetzt um und springen. Das ist nicht gefährlich für uns, denn wir sind gut ausgebildet. Ein derartiges Training ist für die Weiterentwicklung wichtig und verschafft uns für morgen einen Vorteil!«
Das saß. Mit ein wenig Bauchweh haben wir uns umgezogen, aber wenn Liss das sagte, dann würde es schon stimmen. Nachdem wir uns ausknobelt hatten, wer den ersten Sprung absolvieren sollte, und dieser auch gelang, war der Bann gebrochen. Bei starkem Aufwind hob einer nach dem anderen ab und genoss den Gleitflug ins Tal. Jeder Einzelne von uns gewann die notwendige Sicherheit, derartige Bedingungen zu meistern, und das Selbstvertrauen stieg ins Unermessliche. Die Versuche wurden von den Konkurrenten aus den anderen Ländern argwöhnisch registriert. Sie hatten an diesem Tag schon verloren, obwohl der Wettkampf erst am nächsten Tag stattfinden würde.
Heutzutage wäre das nicht mehr möglich. Wenn die Jury eine Schanze sperrt, ist sie gesperrt. Trotzdem ist es eines von vielen Beispielen, was Vertrauen ausmacht. Vertrauen, das man von außen bekommt und das letztendlich in Selbstvertrauen mündet.
Wer sich Vertrauen erarbeiten will, muss auch Risiken eingehen. Liss ging oft auf Risiko. Nicht nur beim Autofahren. Im Alltag, in den Ansagen, im Trainingsprozess. Passiert ist dabei sehr wenig. Meist ist eingetroffen, was er vorhergesehen