die Kollegen vor Ort mobilisieren? Obwohl ihm das Gespräch mit Kniewasser wichtig erschien, entschied er sich am Ende dagegen. Der Aufwand kam ihm doch ziemlich übertrieben vor. Außerdem wollte er nach den Kärntner Erfahrungen nicht schon wieder den Eindruck erwecken, dass der Herr Sonderkommissar aus der Landeshauptstadt die Kollegen aus den Bundesländern als Laufburschen missbrauchte. Nüchtern betrachtet, handelte es sich ja bloß um eine einfache Zeugenbefragung.
Offenbar gab es massive Konflikte zwischen Kniewasser als Verfechterin des agilen Vorgehens und Joschak und Zettl als Vertreter des traditionellen Managements. Hinzu kam, dass sich durch den Tod der beiden die interne Konkurrenz rund um den Posten des Chief Technology Officer erledigt zu haben schien. Nemecek wollte zwar möglichst unvoreingenommen in das Gespräch mit Kniewasser gehen, musste sich aber eingestehen, dass das plausible Mordmotive waren. Je länger er grübelte, desto dringlicher erschien ihm die Befragung.
Doch so schwer es ihm auch fiel: Vorerst musste Nemecek akzeptieren, dass die Produktmanagerin nicht zu erreichen und er selbst wohl oder übel in der Warteschleife gefangen war. Normalerweise fiel es ihm relativ leicht, sich in der Zwischenzeit mit anderen Dingen zu beschäftigen. Dieses Mal fühlte er sich allerdings in einem regelrechten Aufmerksamkeitstunnel gefangen.
Um sich abzulenken, öffnete Nemecek seinen Computer. 12 neue Nachrichten, verkündete sein Mailprogramm. Er überflog die Informationen, die ihm die Welt in der Zwischenzeit zugetragen hatte. Doch bis auf eine Nachricht von Zukic erschien ihm seine aktuelle Post völlig irrelevant. Seiner jungen Kollegin war es gelungen, zumindest einen konkreten Gesprächstermin für ihn auszumachen. Gleich heute Nachmittag würde er mit Niels Swartling sprechen können.
Nemecek blickte auf die Uhr. Er hatte noch etwas mehr als eine Stunde, bevor er sich auf den Weg machen sollte. Kurz entschlossen druckte er sich die Informationen aus, die ihm Zukic über Swartling zusammengestellt hatte. Dann stand er auf, steckte die Ausdrucke in seine Tasche und verließ das überhitzte Büro.
»Darf’s noch ein Espresso sein?«
Nemecek sah von seinem Notizbuch auf und blickte in das vertraute Gesicht des Kellners. Er musste nicht lange überlegen.
»Gerne. Und noch ein großes Glas Wasser bitte.«
»Kommt sofort«, versicherte der Kellner, bevor er ihn wieder seiner Lektüre überließ. Niels Heiner Swartling, überflog Nemecek die ihm vorliegenden Kerndaten. Geboren 1982 in Hamburg als zweites von drei Kindern des schwedischen Staatsbürgers Per Albin Swartling und der Deutschen Inga Rosenthal. Grundschule in Flensburg, Abitur 2000 am Schiller-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg. Zivildienst beim Rettungsdienst in Köln, danach Studium der Organisationsentwicklung an der Universität München. Studienabschluss 2008.
»Mit 26«, kalkulierte Nemecek laut, als ob er den Kellner davon in Kenntnis setzen wollte. Der war ohnehin mit anderen Dingen beschäftigt, sodass sich Nemecek nicht lange überlegen musste, wozu eine solche Mitteilung gut sein sollte. Stattdessen vertiefte er sich wieder in den vor ihm liegenden Bericht. 2009 Master of Business Administration, las er und begann erneut zu rechnen. Den dafür erforderlichen Lehrgang muss Swartling also noch während seines Studiums begonnen haben, überlegte Nemecek. 2011 kürt sich der umtriebige Deutsch-Schwede sowohl zum Agile Change Expert als auch zum Certified Product Owner. Es folgen weitere Zertifizierungen zum Design Thinking Master und zum Flight Levels Coach.
»Bitte sehr«, sagte der Kellner, als er das ovale Tablett mit den gewünschten Getränken über die Theke schob.
»Danke«, murmelte Nemecek ohne aufzublicken. Gerade eben war ihm ein Gedanke durch den Kopf gehuscht, den er unbedingt festhalten wollte. Doch so sehr er sich bemühte, er bekam ihn einfach nicht mehr zu fassen. Dann halt nicht, beendete Nemecek seine Spurensuche, um sich stattdessen die Liste an Unternehmen vorzunehmen, für die Swartling bereits gearbeitet hat. Er musste zugeben, dass diese Liste nicht weniger beeindruckend war als dessen umfassende Ausbildung. Insgesamt zählte er nicht weniger als zwölf Firmen, für die Swartling bereits tätig gewesen war, darunter viele namhafte Vertreter ihrer Zunft. Zudem war Swartling ordentlich in der Welt der Technik herumgekommen. Infrastruktur, Automotive, Mikroelektronik, Telekommunikation umriss er noch einmal die verschiedenen Branchen, in denen der Change-Experte einschlägige Erfahrung gesammelt hatte.
Plötzlich wusste er wieder, was ihm vorher in den Sinn gekommen und dann gleich wieder durch die Lappen gegangen war. Er öffnete seinen Laptop und rief den Acros-Ordner auf, den er mittlerweile angelegt hatte. Die Datei, die er suchte, trug den simplen Titel CEO. Kurz darauf fand er seine Ahnung bestätigt. Tatsächlich hatte Swartling vor der Acros bereits in drei Unternehmen gearbeitet, in denen auch Pflückinger tätig war – noch dazu genau im selben Zeitraum: 2010-2011 bei der SwissData, 2014-2016 bei der Textron Automotive und 2017-2018 bei der TeleMind. Head of Product Development bzw. Agile Coach, begann Nemecek die jeweiligen Jobtitel zu vergleichen, CTO – Agile Transition Master und jetzt also CEO – Agile Change Manager.
Soweit er das beurteilen konnte, hatten beide Männer in der letzten Dekade eine beachtliche Karriere hingelegt. Waren Pflückinger und Swartling also so etwas wie das Dream-Team der agilen Szene? Ergänzten sie sich so gut, dass das laufende Geschäft und dessen gezielte Veränderung produktiv ineinander griffen? Sich also wechselseitig ergänzten und bestärkten, statt einander zu widersprechen? Und rechnete sich das Ganze dementsprechend nicht nur für die beiden Spezialisten, sondern auch für die jeweiligen Unternehmen, für die sie tätig waren?
Langjährige Kooperation mit Reto Pflückinger?, begann Nemecek den Fragenkatalog in seinem Notizbuch zu ergänzen. Gemeinsame Erfolge? Besondere Highlights und Lowlights? Wichtigste Herausforderungen? Er war schon gespannt, welche Antworten er erhalten würde – und wunderte sich gleichzeitig, dass ihm der CEO nichts von seiner intensiven Zusammenarbeit mit Swartling erzählt hatte.
Wenig später signalisierte ihm die Erinnerungsfunktion in seinem Handy, dass er aufbrechen musste.
»Zahlen bitte«, rief er und legte einen Zehn-Euro-Schein auf die Theke. »Stimmt so.«
»Danke«, rief ihm der Kellner zu. Nemecek zog zum Abschied seinen imaginären Hut und stand kurz darauf auf der Straße.
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