Nadine Erdmann

Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel


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      »Ich bin hier und ich helfe dir da raus. Versprochen.«

      Er sprach sanft und leise. Wenn Cam diese seltsamen Anfälle von Nachtangst als Kind gehabt hatte, hatte Jules immer seine Mum geholt, damit sie Cam half. Doch nach der Sache mit den blutigen Fäusten hatte Jules es selbst können wollen. Schließlich war er ja jetzt Cams besonderer Freund, also musste er auch wissen, wie er ihm bei diesen gemeinen Angstattacken helfen konnte.

      Die ersten paar Mal war er schrecklich aufgeregt gewesen und hatte Angst gehabt, irgendetwas falsch zu machen. Doch seine Mum hatte ihm gezeigt, wie es ging. Eigentlich war es ganz einfach. Er durfte bloß keine Angst haben. Und er musste selbst ruhig bleiben. Dann konnte er seine Ruhe in sein Silberlicht stecken und sie Cam schenken, damit er aufwachte.

      Richtig aufwachte.

      Nicht mit diesen starren Augen, die zwar offen waren, aber nichts sahen, und in denen so viel Angst und Panik lag.

      Jules atmete tief durch und griff nach seiner inneren Ruhe.

      Er spürte Cams hämmernden Herzschlag durch den dünnen Stoff seines Schlafshirts und fühlte seine klamme Stirn und die verschwitzten Haare.

      Direkter Hautkontakt machte eine Verbindung leichter, also suchte er sie an Cams Schläfe und fuhr sanft über die schwarzen Totenbändigerlinien.

      Feiner Silbernebel erschien an seinen Fingerspitzen. Jules leitete ihn durch Cams Schläfe und schickte ihn los, die dunklen Angstträume zu vertreiben, die Cam gefangen hielten.

      »Okay, du weißt, dass du mithelfen musst, dann geht es schneller. Also denk an deinen Fluchtplan.«

      Cam atmete noch immer flach und zu schnell, doch sein Blick flackerte kurz.

      Jules ließ seine Finger an Cams Schläfe und schenkte ihm weiter Ruhe. Seine andere Hand legte er über Cams Faust, die sich in die Bettdecke gekrallt hatte.

      »Konzentriere dich auf deine Hand.« Sacht strich er mit dem Daumen über Cams verkrampfte Finger. »Sag deinen Fingern, dass sie die Decke loslassen sollen. Du kannst das. Das weiß ich.« Wieder strich er über Cams Hand. »Lockere deine Finger und hol dir so die Kontrolle zurück.«

      Cams Finger zuckten. Dann fuhr er plötzlich keuchend aus der Schlafstarre und sog tief die Luft ein. Panisch wich er vor Jules zurück und schien nur langsam zu realisieren, wo er sich befand und wer bei ihm war.

      Jules lächelte. »Hey, da bist du ja. Willkommen zurück aus Nightmareville.«

      Erschöpft schloss Cam die Augen und sank zurück in die Kissen. Ihm war kalt, seine Muskeln kribbelten unangenehm, als sie sich langsam entkrampften, und er fühlte sich so matt und zittrig wie nach einer schweren Grippe.

      »Ich schätze mal, du kannst dich auch heute Nacht nicht daran erinnern, was du im Albtraumland erlebt hast?«

      Das konnte er nie.

      Wenn er aufwachte, wusste er immer nur, dass er Todesangst ausgestanden hatte. Meist blieb noch ein Schatten davon nach dem Aufwachen bei ihm zurück.

      Cam schüttelte den Kopf, ließ es aber sofort, weil ihm davon schwindelig wurde. Während der verdammten Starre hatte er zu lange zu schnell geatmet.

      »Du solltest was trinken«, hörte er Jules sagen. »Kannst du dich schon aufsetzen?«

      Cam öffnete die Augen. Sein Herzschlag wurde langsam ruhiger, doch er fühlte sich noch immer zittrig und völlig ausgelaugt. Nach diesen beschissenen Anfällen war sein Körper immer ziemlich am Ende. Trotzdem wäre Cam am liebsten aufgesprungen. Es machte ihn wahnsinnig, dass er sich wieder nicht erinnern konnte, was ihn in diese fürchterliche Panik getrieben hatte.

      Doch Aufspringen war nicht drin. Sein Körper ließ ihn nicht. Der fand es schon bloß semigut, als Cam sich mühsam aufsetzte. Dumpfe Kopfschmerzen pochten gegen seine Schläfen und ihm wurde wieder schwummrig. Ächzend lehnte er sich an die Wand.

      »Hier. Trink was. Dann wird es besser.« Jules drückte ihm eine Wasserflasche in die Hand.

      »Danke.« Cam musste husten. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet.

      Er trank ein paar Schlucke, doch die blöde Flasche schien ungefähr drei Tonnen zu wiegen und seine Hand begann zu zittern. Genervt ließ er den Arm sinken und sah zu Jules, der auf der Bettkante hockte und ihn nicht aus den Augen ließ.

      »Warum bist du hier?«

      »Ich war auf dem Klo und hab dich keuchen und stöhnen gehört.«

      Cam hob eine Augenbraue. »Und dann kommst du einfach so in mein Zimmer? Ich hätte ja immerhin auch … was Privates machen können.«

      Jules grinste. »Wenn du Spaß mit dir selbst oder den Traum aller Träume gehabt hättest, hätte sich das anders angehört. Hoffe ich zumindest. Ansonsten wäre das nämlich kein Spaß, sondern Verzweiflung.«

      Cam verzog das Gesicht. »Okay, Themawechsel.«

      »Hey, du hast damit angefangen.« Jules grinste noch immer, wurde dann aber ernster. »Warum hast du so mies geschlafen?« Er rutschte zu Cam aufs Bett und lehnte sich neben ihm gegen die Wand. »Wegen Topher? Oder machst du dir Sorgen wegen der Leichen, die Gabe, Sky und Connor heute gefunden haben?«

      Wie schon beim Abendessen spürte Cam auch jetzt plötzlich wieder dieses ungute Ziehen in sich. Er hatte keine Ahnung, wo es herkam, oder was es bedeutete, aber seit er von diesen neuen Leichen wusste, fühlte es sich so an, als würde etwas Schlimmes bevorstehen. Etwas, das viel größer und furchteinflößender war, als die Vorstellung, ein irrer Massenmörder könnte ihn nach dreizehn Jahren doch noch in die Finger bekommen.

      Und das machte ihm eine Scheißangst.

      Er wollte niemand mit seltsamen Vorahnungen sein. Es gab im Moment schon mehr als genug Spinner, die den Weltuntergang prophezeiten. Granny hatte ihnen erzählt, dass die in jedem Unheiligen Jahr auftauchten. Manche waren bloß miese Betrüger, die die Angst der Menschen ausnutzten und ihnen mit teuren Schutzamuletten und Seminaren zur Stärkung von Körper, Geist und Seele oder der Reinigung von Haus und Grundstück das Geld aus den Taschen ziehen wollten.

      Andere waren verwirrte Fanatiker, die sich mit Gleichgesinnten in irgendwelche unheilvollen Visionen hineinsteigerten und dann völlig irre Dinge taten. Wie einen Massenselbstmord, zum Beispiel. Einen davon hatte es in den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gar nicht weit von ihrem Haus im Wald vom Hampstead Heath gegeben. Eine Gruppe Menschen war ihrem verblendeten Anführer gefolgt und hatte sich gemeinsam mit ihm vergiftet, in dem Glauben mit ihrem Opfer die böse Macht hinter den Geistern besänftigen und die Menschheit so für immer von den Seelenlosen befreien zu können.

      Wie für den Großteil der Bevölkerung waren auch für Cam solche Vorstellungen Unsinn. Es gab keine böse Macht hinter den Seelenlosen. Geister entstanden, wenn jemand plötzlich und gewaltsam starb. Genauso wie Leben entstand, wenn Frau und Mann zum richtigen Zeitpunkt Sex miteinander hatten. Dahinter steckten weder gute noch böse Mächte. Es gehörte einfach zum Lauf der Natur.

      Das war alles.

      Völlig rational.

      Warum fühlte es sich bei diesen verdammten Leichen dann so anders an?

      Cam wollte niemand sein, der an irgendwelche Mächte glaubte. Er war nicht einer von diesen Spinnern.

      Seine Mitmenschen taten sich selbst und einander schon genug schreckliche Dinge an. Da brauchte es nicht zusätzlich noch irgendetwas Übernatürliches, das im Verborgenen das ultimativ Böse plante.

      Trotzdem fühlte es sich gerade genau so an.

      Und das Schlimmste daran war: Es fühlte sich so an, als wäre er – Cam – ein Teil davon, weil er damals in diesem verdammten Keller gewesen war.

      »Hey, alles okay?«

      Cam fuhr zusammen, als sich Jules’ Hand über seine legte, die sich so fest um die Wasserflasche gekrallt